Amtliches, obligatorisches Publikationsorgan der Gemeinde Meilen
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Amtliches, obligatorisches Publikationsorgan der Gemeinde Meilen

«Wir sind da, wach, und passen auf»

Sitzwachen begleiten verwirrte, unruhige, schwer kranke oder sterbende Patienten im Spital durch die Abend- und Nachtstunden. Sabine Affolter leistet diesen Freiwilligendienst seit fünf Jahren und hat gelernt, dass Reden dabei nicht im Vordergrund steht.

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Sabine Affolter verbringt zwei Abende oder Nächte im Spital bei schwer kranken oder verwirrten Patienten, um ihnen mit ihrer Anwesenheit Trost zu spenden. Foto: MAZ

Als Sabine Affolter sich einst überlegte, welchen Beruf sie ergreifen will, war ihr eines klar: «Nichts mit Kranken und nichts mit Spital!» Doch im Verlauf der Jahre hat sich ihre Einstellung geändert. «Die eigenen Eltern werden älter, und ich fragte mich vor einiger Zeit, wie ich sie besser unterstützen kann, wenn sie einmal krank und gebrechlich sind», erinnert sich die heute 61-Jährige. Sie machte deshalb einen Kurs beim schweizerischen Roten Kreuz, der auch das Thema Sitzwache umfasste und kam dadurch mit einer ganz neuen Welt in Berührung.

Sitzwachen sind für Kranke da, die von der Anwesenheit eines anderen Menschen profitieren. Sie vermitteln ihnen inmitten von Ungewohntem oder Unbekanntem menschliche Wärme und Sicherheit und spenden ihnen dadurch Trost, oder sie reichen ihnen etwas zu trinken oder die Brille. Zusätzlich entlasten Sitzwachen in manchen Fällen die Angehörigen, die sich dank ihnen eine dringend benötigte Pause gönnen können, sowie das Pflegepersonal.

Sich auf die Situation einlassen

«Medizinische Verantwortung trage ich als Sitzwache nicht», erklärt Sabine Affolter, «nur schon wenn der Patient oder die Patientin zur Toilette muss, rufe ich den Pflegedienst. Aber die Pflegenden können sich darauf verlassen, dass wir da sind, wach sind und aufpassen.»

Ihren ersten Einsatz hatte sie vor fünf Jahren, nachdem sie den obligatorischen Einführungskurs des Vereins «Sitzwache im Spital Männedorf» besucht hatte. Damals wie heute reizt es sie, «in eine Situation zu kommen, die jedes Mal wieder anders ist». Sie versuche jeweils, mit Fragen und auch intuitiv herauszuspüren, was der Patient braucht. Ist es Nähe und die Berührung einer Hand oder eher Distanz? Möchte er das Licht meiner Leselampe sehen oder lieber vollständige Dunkelheit?

«Ich mag es, mich einzulassen auf das, was ist», sagt Sabine Affolter: «Ein Zimmer, ein Patient und ich.» Nicht alle Kranken sind ansprechbar, manche schlafen oder stellen immer wieder dieselbe Frage: «Wann kann ich heim?». Sie hat schon starke Raucher nachts zur Raucherecke begleitet, mit einer Patientin in den Spitalgängen einen stundenlangen Rollator-Spaziergang absolviert und einer Frau die Füsse massiert. Sehr verwirrte Patienten könne sie oft mit sanften Antworten auf andere Gedanken bringen und dadurch beruhigen.

Reden steht nicht im Zentrum

Zu Beginn war sie überrascht, dass viele der fast ausnahmslos älteren Patienten nicht das Bedürfnis zu haben schienen, sich länger mit ihr zu unterhalten, auch wenn sie wach waren. Bei der Supervision, die zweimal pro Jahr angeboten wird, erfuhr sie dann, dass «reden oder nicht reden» keine Frage der Qualität sei: Gespräche stehen bei der Sitzwache definitiv nicht im Vordergrund.

«Gelegentlich passiert eben auch gar nichts», sagt Sabine Affolter, «das sind für mich manchmal sogar die besten Nächte.» Sie sinniert, liest etwas, entspannt sich, wickelt sich in die mitgebrachte Decke und verbringt einfach Zeit mit einem Menschen im Mikrokosmos des Spitalzimmers. Sie hört, dass am Bettzeug genestelt wird oder dass sich die Patientin im Bett dreht und ertappt sich manchmal dabei, wie sie im Rhythmus der Kranken atmet.

Die Stunden im Spitalzimmer sind anders

Weil die Freiwilligen unter anderem auf der Palliativstation eingesetzt werden, erleben sie auch sterbende Patienten. Sabine Affolter war noch nie im Zimmer, wenn jemand zu atmen aufhörte, aber sie habe schon Phasen erlebt, wo sie einem Menschen innerlich eine gute Reise wünschte, weil sie spürte, dass es dem Ende zugeht.

Trotz der Gegenwart von Krankheit und Tod empfindet sie die Sitzwache als positiven Teil ihres Alltags und als Bereicherung. Während sie normalerweise in ein getaktetes Berufsleben mit Terminen und Sitzungen eingebunden ist – sie ist die Geschäftsleiterin des Vereins Fee in Meilen –, sind die Stunden im Spitalzimmer etwas ganz anderes. «Und ich kann hier meine Fürsorglichkeit ausleben», sagt sie lachend, denn die vier Söhne sind inzwischen erwachsen und brauchen sie nicht mehr wie früher.

Sie bedauert nur, dass sie wenig Zeit hat, sich mit den anderen Vereinsmitgliedern auszutauschen, weil sie unter der Woche arbeitet. «Wenn wir uns an Anlässen doch einmal sehen, staune ich immer, wie unterschiedlich die Lebenswege und Interessen sind. Es ist die Sitzwache, die uns verbindet.»

Der Verein Sitzwache

Der Verein Sitzwache arbeitet seit 2005 eng mit dem Spital Männedorf zusammen und zählt rund 40 Mitglieder, die sich jeweils für zwei Einsätze pro Monat zur Verfügung stellen: abends (von 20 Uhr bis Mitternacht) und nachts (von Mitternacht bis 7 Uhr). An seinen Einsatzdaten ist das Vereinsmitglied auf Pikett und wird kurz vor dem Termin aufgeboten. Im Jahr 2022 wurden 364 Einsätze bei 130 Patientinnen und Patienten geleistet. Die Einsätze sind ehrenamtlich.

Der nächste Einführungskurs findet statt vom 8. bis 12. April. Anmeldeschluss ist der 17. März. Weitere Infos gibt es online unter www.spitalmaennedorf.ch/fachbereiche/sitzwache

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