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Wenn Licht und Schatten zusammenrücken

«Die Welt, die Existenz ist zu schwer ohne den Himmel, an den sie gehängt ist», schrieb der in Winterthur geborene und viel zu früh verstorbene Schriftsteller Jürg Amann. Er will mit seiner Aussage nicht Gott beweisen, sondern eine existenzielle Erfahrung ausdrücken.

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Der Baum mit seinen Wurzeln im Schattenreich bringt die abgründige Tiefe mit der Weite des Himmels in Verbindung. Foto: iStock

In Momenten, in denen das Leben mit seinen Sinnfragen und Mühen des Alltags als «schwer» empfunden wird, verleiht die Metapher «Himmel» einen Lichtblick, der das Dasein hoffnungsvoller und erträglicher macht. Im Ringen um den Sinn unseres Lebens ist der Halt in etwas, was über unsere Welt hinausgeht, sinnstiftend. Gleichzeitig soll es keine Flucht in eine abgehobene Sphäre sein, die nichts mehr mit dem Hier und Jetzt zu tun hat.

In dieser Hinsicht ist uns das Carl Gustav Jung zugeschriebene Zitat «Kein Baum, sagt man, kann in den Himmel wachsen, wenn seine Wurzeln nicht in der Hölle liegen», eine Hilfe. Es basiert auf Jungs Gedanken zur Integration des Schattens. Um die Mechanismen, welche in uns Bedrängnis auslösen, besser zu verstehen, ist die Auseinandersetzung mit den schwierigen und schmerzhaften Aspekten des eigenen Lebens und der Psyche förderlich. Die Wurzeln des Baumes stehen für die unbewussten oder verdrängten Anteile, die sogenannten Schattenaspekte. Durch das Erkennen und Zulassen der eigenen Schattenseiten verstehen wir besser, woraus wir handeln und warum uns etwas in Bedrängnis bringt. Das Bild des Baums zeigt, dass persönliche Entwicklung durch die Auseinandersetzung mit den dunklen und schwierigen Seiten des eigenen Lebens gefördert wird. Der gewandelte Schatten wird dabei zur Nahrung für den Baum.

Schatten gibt es da, wo Licht ist. Dieser Zusammenhang ist bedeutsam. Denn wenn wir nur das eine sehen, besteht die Gefahr der Einseitigkeit, die zu innerer Zerrissenheit führt. Unsere Schatten wirken sich auf die Lebensqualität aus. Gerade weil sie unbewusst sind, können wir sie nicht leicht orten. Gleichzeitig lässt uns die einseitige Fixierung auf sie all das Lichtvolle nicht sehen, das dem Leben Schwung und Dynamik verleiht. Die Annahme und die Integration der Schatten führen dazu, dass Licht und Schatten näher zusammenrücken und sich nicht mehr gegenseitig bedrängen müssen. Dadurch wird gebundene Lebensenergie befreit.

Der Eidgenössische Dank-, Buss- und Bettag, wie der Festtag des kommenden Wochenendes mit vollem Namen heisst, unterstützt diese Befreiung. Ein wesentlicher Aspekt dieses Tages ist das Bewusstwerden, dass wir aufeinander angewiesen sind, einander ergänzen und unterstützen – Staat, Kirchen und einzelne Personen. Wenn wir als Einzelne und als ganze Institutionen den Weg der Integration unserer Schatten gehen, werden Kräfte frei, die das friedliche Zusammenleben und ‑wirken fördern und bestärken. Denn wenn wir uns selbst besser wahrnehmen und verstehen, führt das zu mehr innerer Ruhe und Klarheit, was das Miteinander positiv beeinflusst. Die Begabungen, Fähigkeiten und Stärken der einen werden zur Quelle und Inspiration für die anderen und umgekehrt.

Diesen neuen, hoffnungsvollen Zustand könnten wir in dem von Jürg Amann zitierten Bild des Himmels sehen. Das Schwere wird leichter, das Bedrängende erträglicher. Der Baum von Carl Gustav Jung, der die abgründige Tiefe und die Weite des Himmels in Verbindung bringt, könnte uns am Bettag ein Gedankenanstoss sein, die Hoffnung nicht aufzugeben und neuen Mut zu finden in der spannenden Auseinandersetzung mit dem Leben und seinen Prägungen. Ich wünsche uns allen, dass nicht nur am Bettag, sondern immer wieder solche existenziellen Erfahrungen unser Leben bereichern.

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