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Nichts ist mehr so wie es war: Die ukrainischen Flüchtlinge, die sich nach Meilen gerettet haben, mussten ihr gewohntes Leben hinter sich lassen und blicken in eine ungewisse Zukunft. Manche von ihnen sind bei privaten Gastgebern untergekommen, wie die sechsköpfige Familie von Masha aus Schytomyr.
Der letzte normale Tag im Leben von Masha Harkavenko war der 23. Februar 2022. «Ich besuchte Vorlesungen an der Uni in Kiew und hatte Tanzstunden, alles war wie immer», erzählt die 19-jährige Jus-Studentin. Am nächsten Morgen wurde sie von einem Telefonanruf ihrer Mutter Aliona geweckt. «Komm sofort nach Hause», flehte ihre Mutter, «auf Kiew fallen Bomben!» Nun spürte es auch Masha, «alle Scheiben im Studentenwohnheim zitterten, es war wie bei einem Erdbeben.»
Niemand konnte glauben, was geschah
Für die Autofahrt in ihre Heimatstadt brauchte sie viermal so lange wie sonst, «alle Strassen waren total verstopft.» Erst nach sechs Stunden kam sie in Schytomyr an. Die Stadt mit 270’000 Einwohnern liegt rund 120 Kilometer westlich von Kiew. Hier wohnt Maschas Familie: Ihre Eltern, ihre Schwester und deren Mann, die Schwester der Mutter mit ihrem Mann und den zwei Kindern sowie die Grosseltern.
Doch auch Schytomyr war nicht sicher, sondern wurde in den ersten Kriegstagen von der russischen Armee mit Raketen beschossen. «Wir konnten es einfach nicht glauben», sagt Masha, «niemand konnte glauben, was er sah. Wir waren alle wie gelähmt. Kein Mensch ging auf die Strasse, wenn er nicht musste. Wir sprachen den ganzen Tag nur vom Krieg und wir schliefen in den Kleidern, weil jede Nacht Sirenenalarm war.» Neben dem Bett hatten alle einen gepackten Koffer mit ein paar Kleidungsstücken und den wichtigsten Dokumenten. «Obwohl wir wussten, dass Putin verrückt ist, hätten wir das alles nie erwartet», sagt Masha.
Zunächst blieb es nun auch für einige Tage ruhig, abgesehen von den ständigen Alarmen. «Doch dann kamen wieder Bomben, die zehn Privathäuser mitten in der Stadt zerstörten, eine Geburtsklinik und eine Schule trafen. Es gab Tote.» Mashas Eltern sprachen das erste Mal darüber, dass ein Teil der Familie das Land verlassen müsse, um sich in Sicherheit zu bringen. Den Ausschlag gab schliesslich Mashas 26-jährige Schwester Nastia: «Sie erzählte uns, dass sie schwanger ist. Das Baby soll im Oktober zur Welt kommen, und zwar an einem sicheren Ort. Da hatten wir irgendwie gar keine Wahl mehr, denn wir konnten sie ja nicht alleine gehen lassen.»
Möglichst weit weg
Neben Masha, ihrer schwangeren Schwester und ihrer Mutter beschloss auch ihre Tante Zhanna Zinchuk mit ihren beiden Kindern Alina (14) und Danylo (4) zu fliehen. Alle männlichen Familienmitglieder blieben indes in Schytomyr.
Nicht nur, weil für Männer zwischen 18 und 60 Jahren Wehrpflicht herrscht. «Die Grosseltern hätten auch fliehen können», sagt Masha, «aber sie wollen bleiben. Sie sagen, die Ukraine ist unser Land, das verlassen wir nicht.»
Doch wohin sich wenden? Die Familie hatte keine Kontakte im Ausland. «Wir wollten weit weg, weiter als nur nach Polen, wo schon so viele Leute waren», sagt Masha. Ihre Tante packte Proviant ein, alle hüllten sich in warme Mäntel, denn in der Ukraine war es unter null Grad, und sie ergatterten Bahntickets bis an die slowakische Grenze, dann bis nach Prag, wo sie im eiskalten Zug übernachteten.
Kontaktaufnahme im Bahnhof von Prag
Und dort kommt der Meilemer Mischa Stöcklin ins Spiel. Er ist der Grund dafür, dass die sechs Flüchtlinge aus der Ukraine jetzt in Sicherheit an der Burgstrasse an einem grossen Tisch sitzen. Der 42-jährige Physiker lebt mit seinem Hund Angelos nach einem längeren Aufenthalt in London seit über zehn Jahren wieder in seinem Elternhaus und verfolgte das Geschehen in der Ukraine intensiv, auch auf Kanälen des Messaging-Dienstes Telegram – genau wie Masha und ihre Familie, für die Telegram eine wichtige Informationsquelle darstellt. Auf Telegram gibt es auch Gruppen, in denen Unterkünfte vermittelt werden. Eine davon wurde von einer Ukrainerin gegründet, die schon seit langem in der Schweiz wohnt und Mitglied verschiedener professioneller und kultureller Organisationen mit Verbindungen in die Ukraine ist, «ist also seriös», wie Mischa betont. Sein Angebot, er habe ein grosses Haus und könne fünf bis sechs Leute bei sich beherbergen, las Masha im Bahnhof von Prag. Weil sie sehr gut Englisch spricht, ist sie so etwas wie die Organisatorin und Kommunikatorin der Gruppe, obwohl auch ihre ältere Schwester und ihre Tante sich auf Englisch unterhalten können. «Wir wollten auf keinen Fall getrennt werden, und Unterkünfte für sechs Leute sind selten», sagt Masha, «wir entschieden deshalb innert zehn Minu-ten, dass wir in die Schweiz gehen, wenn Mischa noch Platz hat.»
Dieser hatte schon Tage vorher begonnen, das grosse Haus herzurichten. Länger nicht mehr genutzte Räume wurden mit Hilfe seiner Haushälterin entstaubt, und er kaufte Zahnbürsten und Shampoo für seine Gäste, «um sicherzustellen, dass die Basics vorhanden sind.» – «Die Sachen benutzen wir jetzt wirklich», sagt Masha lächelnd. Am Abend des 10. März sind die sechs nach einer Weiterreise über Österreich und insgesamt drei Tagen unterwegs in Meilen angekommen.
Herzlich willkommen
Inzwischen sind drei Wochen vergangen. In Mischas verwinkeltem Haus gibt es gemütliche Ecken mit Sofas und Sesseln, ein grosses Wohnzimmer, dicke Teppiche auf den Böden und schön gerahmte Bilder an den Wänden, man sieht, dass hier schon lange gelebt wird.
Die Frauen sitzen am grossen Esstisch und erzählen, die 14-jährige Alina ist in ihrem Zimmer und zeichnet, während der vierjährige Danylo in einem von den Nachbarn geschenkten Fasnachtskostüm herumrennt und etwas auf Ukrainisch ruft: «Er sagt, er sei ein Kosmonaut-Superman», erklärt seine Mutter Zhanna. «’Herzlich willkommen’ ist der deutsche Ausdruck, den wir am schnellsten gelernt haben», sagt Masha: «So viele Freunde von Mischa haben uns schon geholfen. Wir schätzen diese Hilfe wirklich sehr.» Besonders berührt waren sie vom Mitgefühl der 8-jährigen Emilia, die eine grosse ukrainische Flagge aufs Trottoir vor ihrem Haus malte. Dank Emilia kamen die Flüchtlinge auch mit ihren Eltern ins Gespräch. Emilias Mutter hat für die schwangere Nastia einen Termin bei ihrer Frauenärztin organisiert, und Alinas 14. Geburtstag wurde mit Pizza bei der Nachbarsfamilie gefeiert.
Warten auf den Schutzstatus S
Andere Nachbarn bringen Spielsachen für Danylo, Kleider für die Frauen und Blumensträusse aus dem Garten. Es gibt private Hilfsangebote von allen Seiten. Die Abläufe für die staatliche Hilfe sind allerdings schwer zu durchschauen. Obwohl sich die Familie sofort nach der Ankunft beim Migrations-amt registriert hat, lässt die Bestätigung für den Schutzstatus S auf sich warten.
Mischa ist deswegen ständig am Telefonieren. Denn der Schutzstatus S ist die Voraussetzung dafür, dass Masha die Arbeit in einem Zürcher Restaurant antreten kann, die sie sich bereits organisiert hat, und auch dafür, dass die Familie Sozialhilfe beantragen kann: Ihr Erspartes aus der Ukraine ist bald aufgebraucht.
Jeden Tag auf gute Nachrichten warten
Es wird Schritt für Schritt vorwärts gehen. Doch es ist auch schwer, sich immer mehr auf die Umstände und auf das Leben in Meilen einzulassen. Jede Investition in die nächste Zukunft in der Schweiz ist für die Flüchtlinge auch ein Schritt weg von Hoffnung, schon bald in die Heimat zurückkehren zu können. Im Gespräch stehen Mashas Mutter, ihrer Tante und ihrer Schwester immer wieder die Tränen in den Augen. «Jeden Tag hoffen wir auf gute Nachrichten», sagt Zhanna. Mashas Vater zeigt manchmal die Wohnung und ihren Hund, den sie zurücklassen musste, per Video, «aber dann muss Mutter immer weinen».
«Wenn wir ohne den Krieg hier wären, wären wir die glücklichsten Menschen der Welt», sagt Masha: «Die perfekten Häuser in der perfekten Stadt, die wunderschöne Landschaft. Aber so… wir können das alles gar nicht geniessen, weil wir immer an zu Hause denken.»
Dass die Flüchtlinge trotz allem ihren Humor nicht verloren haben, haben sie am 1. April bewiesen. «Sie haben mir weisgemacht, dass eine weitere Gruppe von sechs Ukrainern bei mir einziehen will», sagt Mischa und verdreht die Augen: «Und weil ich vor dem Kontakt zu ihnen schon mit jemand anderem im Gespräch war, habe ich das dann irgendwie auch geglaubt.» Masha schmunzelt. «Wir haben ihn gestoppt, bevor er damit begonnen hat, Matratzen für ins Wohnzimmer zu organisieren.»
In der nächsten Woche lesen Sie im Meilener Anzeiger, wie es Masha und ihrer Familie in Meilen weiter ergangen ist.
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