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An meiner früheren Pfarrstelle verstarb einmal ein Mann, der von Beruf Förster war. Während des Trauergesprächs zur Vorbereitung der Beerdigung sagte ich zu seiner Frau und den erwachsenen Kindern: «Bei ihnen stand an Weihnachten im Wohnzimmer wohl jedes Mal ein ganz besonders prächtiger Baum.»
Zu meiner Überraschung verdrehten alle die Augen, und die Frau des Försters entgegnete: «Weit gefehlt! Er hat uns zwar immer den schönsten Baum versprochen. Aber dann kam er jedes Mal an Heiligabend mit dem hässlichsten Tannenbäumchen nach Hause, das man sich vorstellen kann. Mickrig, krumm gewachsen, asymmetrisch – wirklich nicht schön!» – «Warum hat er das getan?», fragte ich neugierig. «Na ja, er hatte natürlich seinen Spass daran, uns zu ärgern. Und doch meinte er es ernst. Denn er hat stets mit feierlicher Stimme verkündet: Gerade dieser hässliche Baum verdient es, unser Baum zu sein – schliesslich ist Weihnachten!» Die Frau hielt einen Moment inne. Dann sagte sie: «Wir wussten, dass er recht hatte. Und so gaben wir jedes Jahr, wenn auch manchmal widerwillig, unser Bestes, um das hässliche Tannenbäumchen mit viel Liebe in einen Weihnachtsbaum zu verwandeln.» Nun leuchteten die Augen der Hinterbliebenen des Försters.
Seither erinnere ich mich jeden Advent an diese Geschichte, die mich lehrt, was Weihnachten eigentlich bedeutet. Für den Förster kam keiner von den perfekt gewachsenen Tannenbäumen, die er im Advent zuhauf verkaufte, als Weihnachtsbaum in Frage. Dafür auserkor er vielmehr jenes unansehnliche Tannenbäumchen, das von niemandem beachtet einsam in der Dunkelheit des Waldes stand. Für den Förster jedoch war das hässliche Bäumchen würdig, mit Liebe geborgen und in einen leuchtenden Weihnachtsbaum verwandelt zu werden.
Diese ungewöhnliche Bewegung, die der Förster und seine Familie jedes Jahr von Neuem vollzogen, gleicht jener Bewegung, mit der Gott an Weihnachten zu den Menschen kommt. Nicht im prunkvollen Palast einer perfekten Welt wird Gott geboren, sondern am unwirtlichsten Ort, den man sich denken kann: in der Futterkrippe eines Stalls, in der Dunkelheit und Einsamkeit, weit weg von allem. Nicht Könige, Macher, Siegerinnen und Erfolgreiche sind die ersten Adressaten des Schöpfers der Welt. Vielmehr sucht Gott die Armen, die Verstossenen, die Leidenden. Um ihnen seine Solidarität zu bekunden und seine Liebe zu schenken. Um die Verlorenen aus der Dunkelheit zurückzuführen in den Schein des Lichts. – Weihnachten ist anders!
Soll nun in jedem Wohnzimmer das schöne Tannenbäumchen durch ein hässliches ersetzt werden? Sicher nicht. Aber: An Weihnachten steht nicht das Perfekte im Vordergrund. Weihnachten ist vielmehr die Geschichte von Gott, der sich aus Liebe auf das Unvollkommene und Hässliche dieser Welt einlässt. An Weihnachten bekommt die unendliche Liebe Gottes ein Antlitz – das Antlitz des Kindes in der Krippe, das die Menschen so sehr liebt, dass es bereit ist, all die Schwachheit und Ohnmacht und schliesslich den Tod auf sich zu nehmen. Damit die Welt erlöst und verwandelt wird, damit alle das Leben haben.
Wenn also am kommenden Heiligabend und auch später nicht alles so perfekt verlaufen sollte wie gewünscht, so sei man nicht enttäuscht. Vielmehr erinnere man sich an diese Geschichte vom Förster und dem hässlichen Tannenbäumchen und überlege, wie Schwierigkeiten, Mängel und Schwächen durch Liebe geborgen und verwandelt werden könnten – schliesslich ist Weihnachten!
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