Amtliches, obligatorisches Publikationsorgan der Gemeinde Meilen
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Neulich in Meilen: Lauter Wein

Neulich sass ich in der Bar und trank mein Bier. Wobei ich es diesmal nicht einfach trank. Ich liess es mir schmecken. Ich behielt den Schluck einen Moment im Mund, spürte dem Geschmack nach, empfand die Kühle, aber auch die Süsse und die Bitterkeit.

Dann liess ich es sanft die Kehle runtergleiten und war gespannt auf die Wirkung des Abgangs. «Bier!», kam ich schliesslich zum Schluss. Carla, die mein Tun beobachtet hatte, setzte sich mit ihrem Glas Weisswein neben mich. «Bist du unter die Feinschmecker gegangen?» –«Ich wollte mal das Bier so verkosten, wie ich es letzte Woche bei einer Weindegustation erlebt habe.» – «Wie kommst du an eine Weindegustation?» – «Es war mehr ein ‹wine and dine›. Das Essen war hervorragend.» – «Der Wein, nehme ich an, auch.» – «Natürlich! Ich habe einfach gestaunt, welche Worte und Metaphern die Experten für die Weine übrig hatten. Wie würdest du zum Beispiel deinen Weissen beschreiben. Warum schmeckt er dir?» – Carla nahm einen Schluck, behielt ihn einen Moment im Mund und meinte schliesslich: «Er ist frisch, fruchtig. Und mir gefällt die Mischung von Säure und leichter Süsse im Abgang.» – «Das sind Worte, die ich auch hätte wählen können. Aber an jenem Abend sprachen die Insider von ‘oxidativer Note’ und dass sich ein gewisser Wein noch entwickeln konnte.» – «Ich versteh, was Du meinst.» – «Einer sagte sogar: ‘Das ist kein lauter Wein. Der kommt sehr leise auf einen zu.’» – Ich schaute Carla an: «So etwas habe ich noch nie über einen Wein gehört!» Ich winkte Jimmy zu, der mir ein zweites Bier brachte. «Ich finde diese Metaphern aber interessant», meinte Carla. «Sie erweitern meinen Horizont.» – «Genau das war auch mein Erlebnis. Im direkten Vergleich konnte ich zumindest nachvollziehen, was der Experte mit einem lauten Wein meinte. Aber was ein mineralischer Wein ist, weiss ich immer noch nicht.» – «So genau könnte es auch nicht beschreiben. Ich liebe es einfach, wenn ein Wein reich ist.» – «Ähnlich geht’s mir beim Bier. Egal ob es laut oder leise ist: Es soll schmecken.» Carla lachte. «Ich muss weiter», sagte ich und legte das Geld auf die Theke. «Jimmy! Bis in einer Woche!» –«Bis nächste Woche», rief dieser zurück. Ich verabschiedete mich auch von Carla und ging nach draussen, wo mich die kalte Novembernacht empfing. Und diese Kälte kam eindeutig laut auf mich zu.

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