Amtliches, obligatorisches Publikationsorgan der Gemeinde Meilen
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Neulich in Meilen: Indian Summer

Neulich sass ich in der Bar. Der Pfarrer sass neben mir. Er trank ein Bier. Ich ebenfalls. «Herrliches Wetter», meine er. «Ein wunderbarer Herbst», bestätigte ich. «Ich liebe es, wie die Farben der Bäume und Reben leuchten!»

Der Pfarrer kam aus dem Schwärmen nicht heraus. Ich konnte das nur unterschreiben. «Ein richtiger Indian Summer!», sagte ich. Da wurde des Pfarrers Gesicht nachdenklich. «Woher kommt eigentlich dieser Begriff ‘Indian Summer’?» – «Aus den USA. Die haben doch in den New-England-Staaten stets einen so schönen Herbst.» – «Schon», meinte er, «aber wieso heisst das Phänomen dann nicht New England Summer?» – «Keine Ahnung. Aber wir können ja googeln», sagte ich und zückte mein Smartphone. Ich las und erklärte dem Geistlichen: «Man weiss es nicht genau. Es hat möglicherweise etwas mit den Indianern, den amerikanischen Ureinwohnern, zu tun.» – «Dacht’ ich’s mir doch!» schnalzte der Pfarrer zufrieden. «Es könnte mit der Jagdsaison der Ureinwohner zu tun haben.» – «Das ergibt Sinn.» – «Oder, etwas weniger schön: Mit der idealen Witterung für die Jagd auf die kolonialen Siedler aus Europa.» – «Autsch!» – «Das werden sich die Siedler auch gesagt haben.» – «Und die Ureinwohner erst!» – «Da hast du auch wieder recht.» – «Zum Glück sind die Zeiten, in denen die Jagd aufeinander gemacht haben, vorbei.» – «Das kannst du laut sagen. Aber, und das ist das Schöne an der Sache, den Indian Summer gibt es immer noch!» Der Pfarrer nickte. «Das macht mich auch immer wieder staunen über die Kraft der Natur», fuhr ich fort. «Wir Menschen können uns noch so übel benehmen, sie schafft es immer wieder, uns mit ihrer Schönheit zu beschenken.» – «Das ist gut!», rief nun der Pfarrer beinahe. «Das ist ein wunderbares Bild für Vergebung. Das wird die nächste Predigt.» – «Vergebung? Ich sprach von Schönheit.» – «Was gibt es Schöneres als Vergebung?» Hastig legte der Pfarrer sein Geld auf die Theke und verschwand. «Was ist denn in den gefahren?», fragte Jimmy verwundert. «Ich weiss nicht. Die Muse? Der Heilige Geist? Oder einfach der schöne Herbst?» Jimmy lachte. Ich bezahlte. «Bis nächste Woche, Jimmy.» – «Bis in einer Woche», antwortete er. Ich trat hinaus in den herbstlichen Abend und war froh, dass ich keine Predigt machen musste, sondern mich einfach an diesem prächtigen Herbst erfreuen konnte.

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