- Kolumne
- Beni Bruchstück
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Neulich sass ich in der Bar und trank ein Bier. «Es ist Herbst», sagte ich, nachdem wir angestossen hatten.
«Ja», bestätigte Roger meine Beobachtung, «die Blätter fallen, fallen wie von weit. Als welkten in den Himmeln ferne Gärten.» – «Du bist ein Poet», meinte ich erstaunt. «Ist aus einem Gedicht. Musste es in der Schule auswendig lernen.» Wir schwiegen. «Mit Herbst verbinde ich Vergänglichkeit. Man spürt: das Leben ist endlich.» – «Aber es ist eine schöne Vergänglichkeit», wandte Roger ein. «Die Farben der Blätter, die einen bunten Teppich auf die Wiesen legen – das ist doch wunderbar.» – «Schon», musste ich ihm recht geben. «Nur eben, sie unterstreichen auch, dass Frühling und Sommer vorbei sind.» – «Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. Und sieh dir andre an: es ist in allen», zitierte Roger weiter. «Ich weiss, wir sind alle sterblich. Mir geht es aber um etwas anderes.» – «Um was denn?» – «Mir führen diese Tage vor Augen, dass eben auch unser Leben seine Jahreszeiten hat. Was mal war, wird nicht wiederkommen.» – «Woran denkst du?» – «Ich hatte zum Beispiel in meinen Dreissigern eine super Zeit im Beruf. Natürlich sehe ich gelegentlich Kollegen von damals. Und wir haben es stets gut. Aber es bleibt beim ‹Weisch no?›. Wir werden nie mehr diese verschworene Truppe werden.» Roger nickte. «Das ist klar. Ist aber auch gut so.» – «Natürlich», gab ich unumwunden zu. «Mir wird einfach klar, dass jede Lebensphase nur einmal stattfindet. Auch Eltern zum Beispiel werden die Familienphase genau einmal erleben. Die werden danach nicht sagen können: Ok, das machen wir noch einmal. Aber diesmal anders oder besser oder so.» – «Du bist reichlich melancholisch drauf, wenn ich das so sagen darf.» Roger sah mich von der Seite an. «Ich weiss. Verzeih bitte.» Wir stiessen noch einmal an. «Das alles hat doch auch sein Gutes», meinte Roger schliesslich. «Nämlich?» – «Herbst ist auch Erntezeit. Eine Zeit, in der man dankbar geniessen kann, was übers Jahr geworden ist.» Ich lächelte. «Es ist immer gut, mit dir zu reden.» Dann verabschiedet ich mich, rief zu Jimmy: «Bis in einer Woche», und er rief: «Bis nächste Woche.» Ich trat nach draussen und sah auf dem Heimweg den fallenden Blättern zu. Da kam mir der Schluss des Gedichts in den Sinn. «Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.»
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