- Kolumne
- Beni Bruchstück
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Neulich sass ich in der Bar und trank ein Bier. «Na», sagte Roger, nachdem wir angestossen hatten, «du wirst auch langsam alt.»
Ich stutzte und fragte: «Wie kommst du darauf?» – «Dein Bauch wird nicht wirklich kleiner», antwortete er. «Ganz offensichtlich isst du gerne.» «Keine Frage», sagte ich und fügte an: «Da scheint es dir nicht anders zu gehen», und klopfte auf seine Rundung. Dann fragte ich: «Aber was hat das mit dem Alter zu tun?» – «Ich habe gelesen, dass Essen die Erotik des Alters sei.» – «Habe ich auch schon gehört. Sind wir schon alt?», fragte ich. «Ich weiss nicht», antwortete Roger und fügte an: «Gegessen habe ich eigentlich schon immer gerne. Somit wäre ich immer schon alt gewesen.» – «Und am Street Food Festival waren, wenn ich das recht gesehen habe, Menschen jeden Alters. Gelten die nun alle als alt?» – «Hm», machte Roger. «Was könnte denn sonst mit diesem Spruch gemeint sein?» – «Vielleicht», versuchte ich eine Antwort, «meint man damit, dass mit zunehmendem Alter die zwischenmenschliche Erotik durch die Leidenschaft fürs Essen ersetzt wird. Vereinfacht gesagt: Mich interessiert mehr, was meine Frau gekocht hat als sie selber.» Wir schwiegen einen Moment. Dann sagte ich: «So gesehen bin ich definitiv noch nicht alt.» Roger stimmte ein: «Ich auch nicht.» Schliesslich schüttelte er den Kopf und sagte: «Und wenn ich an die Erzählungen meines Onkels Heinz denke, dann stimmt das auch für ihn nicht. Und er ist ein ganzes Stück älter als ich.» – «Wie alt ist er denn?» – «Er wird im Herbst 85.» Darauf meinte ich: «Ist doch schön, dass man mit 85 noch nicht alt ist.» – «Ja», bestätigte Roger, «oder der Spruch ist falsch.» – «Das könnte natürlich auch sein.» Und nach einer kurzen Pause sagte ich: «Immerhin hat er uns Gesprächsstoff geliefert.» – «Nimmst du auch noch eins?», fragte er unvermittelt, und ohne meine Antwort abzuwarten, streckte er zwei Finger in Richtung Jimmy, der sich sogleich am Zapfhahn zu schaffen machte. Als ich schliesslich zahlte, war es schon spät, aber immer noch hell. «Bis in einer Woche», sagte ich zu Jimmy, und er entgegnete mit einem Lächeln: «Bis nächste Woche.» Ich trat in den sommerlichen Abend hinaus, atmete tief die süsse Luft des Sees ein, machte mich auf den Heimweg und dachte vor mich hin: Ich esse gern, aber ich fühle mich definitiv noch nicht alt.
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