Amtliches, obligatorisches Publikationsorgan der Gemeinde Meilen
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Neulich in Meilen: Eine Minute!

Neulich, ich sass auf meinem Hocker und trank mein Bier, setzte sich eine Dame neben mich und bestellte einen Weisswein. «Kommt sofort», sagte Jimmy. Sie aber rief ihm nach: «Eine Minute! Du hast eine Minute Zeit, mir den Wein zu bringen.»

Ich sah sie verwundert an und meinte: «Dann hätten Sie besser ein Bier bestellt.» – «Wieso das denn?» – «Na, wenn Sie so in Eile sind, dann stürzen Sie lieber eine Stange runter. Bei einem guten Wein ist das doch viel zu schade.» – «Ich hab’s nicht eilig», erwiderte sie und nahm freundlich nickend den Wein von Jimmy entgegen. «Ich habe mir einen Sport daraus gemacht, herauszufinden, was man alles in einer Minute machen kann.» – «Ok, dann hat Jimmy erfüllt. Das war bedeutend weniger als eine Minute.»

Sie nickte. Dann hielt sie mir ihr Glas hin und sagte: «Ich bin Carla.» – «Freut mich. Mein Name ist …» – «Ich weiss, wer du bist! Dich kennt man hier.» Ich stiess mit meinem Glas gegen ihres. Sie fuhr fort: «Ich war an der Wahlveranstaltung. Da hatten die Kandidatinnen und Kandidaten gerade mal eine Minute Zeit, sich vorzustellen. Eine Minute! Was kann man da schon sagen?» Ich wiegte den Kopf hin und her und meinte: «Eine Minute ist nicht wenig.» – «Also für die Leute, die sich zur Wahl stellten, schon.» – «Man muss die Zeit eben zu nutzen wissen. Berry Gordy…» – «Wer?» – «Ein legendärer Musikproduzent. Egal. Jedenfalls, der hat seinen Komponisten 30 Sekunden gegeben. Danach ging der Daumen hoch oder runter.»

Carla stutzte. «Aber wie will man in dieser kurzen Zeit etwas sagen?» – «Überleg mal. Wenn du einen YouTube-Film anschaust, dann kommt häufig Werbung, die man nach fünf Sekunden überspringen kann.» – «Genau. Lästig!» – «Die guten Werbefilme bringen in diesen fünf Sekunden ihre Botschaft an den Mann.» – «Stimmt. Aber das ist ungemein schwer!» – «Da steckt viel Arbeit dahinter», gab ich ihr recht. «Aber so betrachtet, ist eine Minute plötzlich viel Zeit. Wie auch immer», ich trank mein Glas leer, «ich muss weiter.» – «Ich nehme mir noch etwas Zeit für diesen Wein. Seine Botschaft will ich gerne noch etwas wirken lassen.»

Ich lächelte und zahlte. «Bis in einer Woche!» Jimmy steckte das Geld ein und sagte: «Bis in einer Woche!» Dann trat ich in die Nacht hinaus, die kaum fünf Sekunden brauchte, um mich mit ihrem frühlingshaften Charme für sich zu gewinnen.

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