Amtliches, obligatorisches Publikationsorgan der Gemeinde Meilen
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Neulich in Meilen: Die Leviten lesen

Neulich sass in der Bar und trank ein Bier. Mittlerweile war auch der Pfarrer häufiger hier anzutreffen. So auch an diesem Abend. Wir stiessen an. Und schwiegen erst einmal.

«Mein Vater», beendete ich das Schweigen, «hat früher, wenn er mit jemandem unzufrieden war, gesagt: ‚Dem muss ich mal die Leviten lesen’. Hat diese Redewendung nicht auch etwas mit der Bibel zu tun?» Der Pfarrer nickte. «In der Bibel, im Alten Testament, gibt es ein Buch, das Leviticus heisst.» Und als er keine Anstalten machte, weiter zu erzählen, fragte ich: «Und wird darin viel geschimpft?» Wieder nickte er. «Vor allem in einem Kapitel spricht Gott davon, dass er die Menschen segnet, wenn sie den Sabbattag einhalten. Dass er sie aber hart straft, wenn sie es nicht tun.» – «Also ganz, wie man sich den Gott des Alten Testamentes vorstellt. ‚Wenn ihr nicht brav seid, setzt’s was.’» Der Pfarrer nahm einen Schluck und sagte: «Nur, was mich in diesem Fall besonders dünkt, es geht dabei ausschliesslich um das Halten des Sabbattages. Um keine anderen Sünden.» – «Du meinst, Hauptsache, man geht am Sonntag in die Kirche?» – «Nicht wirklich. Es geht eher um die Ruhezeiten, die wiederkehrenden Brachzeiten. Für den Menschen, aber auch für das Land.» – «Sehr aktuell», meinte ich nachdenklich. «Inwiefern?», fragte der Pfarrer. «Nun», fuhr ich fort, «einer der Gründe für die massiven Umweltprobleme, die wir haben, ist doch, dass wir der Erde keine Ruhezeit mehr gönnen. Wir fischen die Meer leer und übernutzen die Wälder und Felder.» Nun wurden des Pfarrers Augen wach. «Es gibt keine Brachzeiten mehr für die Erde, in denen sie sich erholen könnte. Und die Folgen sind Hungersnöte, Überschwemmungen und Kriege.» – «Wir fragen dann zwar, wieso lässt Gott das zu, aber im Grunde ist es die logische Folge von unserem Verhalten.» – «Das ist gut», sagte der Pfarrer begeistert, während er sich eiligst ein paar Notizen machte. «Das ist sehr gut! Das wird meine nächste Predigt.» – «Ich sag’s ja: Ein Bier an der Bar ist inspirierend. Trotzdem muss ich nun weiter», meinte ich, wobei ich nicht sicher war, ob der Pfarrer das noch hörte. «Jimmy! Bis in einer Woche!» – «Bis nächste Woche», antwortete dieser. Ich trat in die Dunkelheit hinaus und dachte bei mir: «Manchmal ist es gar nicht so schlecht, wenn man die Leviten gelesen bekommt.»

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