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Neulich sass ich in der Bar und trank ein Bier. «Bichsel ist tot», sagte ich lakonisch, als ich mit Roger anstiess. «Hast du ihn gelesen?» – «Kaum», antwortete ich, «aber irgendwie habe ich trotzdem das Gefühl, ihn gekannt zu haben.»
Roger nahm einen Schluck. «Er war auch nicht der grosse Romancier, der die dicken Bücher schrieb.» Nach einem weiteren Schluck fuhr er fort: «Dennoch gehört er zur Kulturlandschaft wie Frisch und Dürrenmatt und wie sie heissen.» Wieder ging das Glas zum Mund. Dann fragte er: «Wieso eigentlich?» Auch ich dachte nach. Das kühle Bier half mir dabei. Ich antwortete: «Ich habe das Gefühl, er hat vor allem geschrieben, damit man hinhört, wenn er was zu sagen hat.» – «Meinst du das wirklich?» – «Das stimmt natürlich so zugespitzt nicht. Aber ich fand ihn immer interessant, wenn er den Mund aufmachte und redete.» – «Hat was», meinte Roger darauf. Ich begann zu erzählen: «Ich habe ihn zum Beispiel mal an einem Podium erlebt. Da waren er und eine Frau. Eine berühmte Theologin. Sie diskutierten über irgendein Thema, das die Welt damals beschäftigte. Und eigentlich hätte man erwartet, dass die Theologin hoffnungsvoll Freude verbreitet. Aber wenn sie den Mund aufmachte, wurde es kämpferisch, und Bitterkeit klang aus ihren Worten.» – «Und Bichsel?» – «Er presste wie gewohnt seine näselnde Stimme aus seinem knorrigen Gesicht. Aber was er dann sagte, nahm uns stets mit auf eine überraschende Reise und befreite uns regelmässig zu herzhaftem Lachen.» Roger leerte sein Glas und sagte: «Ja, das hilft mehr, wenn es darum geht, die Weltlage zu ertragen.» – «Irgendwo in seinem Herzen musste da bei allem Pessimismus, den er zur Schau trug, eine ungeheuer positive Kraft geschlummert haben.» – «Muss wohl so sein», meinte auch Roger. «Intelligenz der Freude habe ich es damals genannt», sagte ich. «Er hatte eine Intelligenz, die nicht aus der Schulbildung, sondern aus der Herzensbildung kam. Damit hat er mich jedes Mal für sich eingenommen. Darum habe ich ihm lieber zugehört als ihn gelesen.» Irgendwann zahlte ich. «Bis nächste Woche», sagte ich zu Jimmy. «Bis in einer Woche», antwortete er. Ich trat nach draussen und nahm mir vor, im Netz nach einem Interview mit Bichsel zu suchen, um mich von seinen Worten zur Freude anstacheln zu lassen.
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