Meilener Anzeiger AG
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Seit bald 25 Jahren findet an einem der ersten Sonntage im Januar in Meilen ein Neujahrsapéro statt. Organisiert wurde er bisher jeweils von der FDP Meilen, neu übernimmt die Gemeinde die Organisation und auch die Kosten.
Rund 150 Meilemerinnen und Meilemer trafen sich am vergangenen Sonntag im Jürg-Wille-Saal des Löwen, um auf das neue Jahr anzustossen. Eine gute Gelegenheit für Gemeindepräsident Christoph Hiller, um in seiner Neujahrsansprache einige Gedanken zum neuen Jahr und zur politischen Weltsituation zu teilen.
Liebe Meilemerinnen und liebe Meilemer
Ich begrüsse Sie im Namen des Gemeinderats ganz herzlich zum Neujahrs-Umtrunk. «Neues Jahr – neues Glück» ist eine Redensart. Ich hoffe, dass das im 2023 für uns alle zutrifft.
Dass ich Sie heute begrüsse, ist eine Premiere. Das erste Mal hat die Freisinnige Partei mit finanzieller Unterstützung des Meilemer Gewerbes am Berchtoldstag 1998 zu diesem traditionellen Apéro eingeladen. Nachdem es immer schwieriger geworden ist, Sponsoren zu finden, und auch im Wissen darum, dass der Anlass längst weit über die Parteigrenzen hinaus beliebt ist, ist das geschehen, was immer passiert, wenn Hilfe erforderlich ist: Man ruft dem Staat! So ist also die Gemeinde spontan eingesprungen und hat zum heutigen Umtrunk eingeladen. Und deshalb stehe ich nun hier. Und wenn schon Neues, dann bleibt es nicht bei dem allein: Weil ich für eine musikalische Einlage nicht sonderlich geeignet bin, hören Sie stattdessen eine eher ernsthafte Neujahrsansprache.
Ein Jahreswechsel gibt Gelegenheit, zurückzuschauen und vorwärts zu blicken. Und er gibt auch Gelegenheit, einen Moment im Alltagstrott inne zu halten und sich auf das zu besinnen, was wirklich wichtig ist. In einem solchen Moment wäre man gerne Wahrsager oder Hellseher; als Politiker ohnehin. Aber ich kenne mich weder mit Glaskugeln noch mit Zinngiessen sonderlich gut aus und mit der Astrologie auch nicht wirklich. Wenn jemand weiss, wie die Sterne stehen, so wird es Elizabeth Teissier sein. Doch bei ihr Rat zu suchen, ist möglicherweise nicht von Erfolg gekrönt, denn – so befürchte ich – sie weiss selber nicht, wie es um die Zukunft steht. Jedenfalls ist ihr Jahreshoroskop in der Schweizer Illustrierten übertitelt mit dem Fazit, das eigentlich immer passt: «Auch düstere Zeiten bergen Lichtblicke.»
Wäre dem wirklich so, dann wären wir wohl mit strahlender Helligkeit gesegnet. Denn wir haben an Silvester ein Jahr verabschiedet, in dem auf der Welt tatsächlich nicht allzu viel Erfreuliches zu vermelden war. Anfangs Jahr galten noch die Corona-Schutzmassnahmen, dann – am 24. Februar – setzte der russische Präsident Wladimir Putin seine Truppen in Bewegung und erklärte, dass er zwecks Entnazifizierung der Ukraine eine sogenannt besondere militärische Operation angeordnet habe. Der Angriff auf einen souveränen Staat zieht unendlich viel menschliches Leid nach sich!
Die Aufnahme von schutzsuchenden Flüchtlingen brachte die Asylorganisation in der Schweiz und in den Kantonen an den Anschlag und war auch für Meilen eine Herausforderung. Und in der Folge dieses Konflikts und den notwendig gewordenen Sanktionen tauchte das Damoklesschwert einer Energiemangellage auf. Dazu kamen Verwerfungen an den Börsen und eine teilweise weit über dem Vorstellbaren hohe Inflation, die weltweit den wirtschaftlichen Aufschwung beeinträchtigten.
Seit bald einem Jahr also bringen uns schreckliche Bilder vom Krieg – nur knappe drei Flugstunden von uns entfernt; näher als Lissabon, Dublin oder Stockholm – täglich ins Bewusstsein, dass Frieden kein selbstverständlicher Zustand ist. Was Frieden wert ist, machen uns die Nachrichten über das Bombardement von Städten, über brutale Angriffe auf die Zivilbevölkerung klar. Bilder von Hochhäusern in Schutt und Asche, Bilder von Schutzsuchenden unter Brücken und in U-Bahn-Stationen, Bilder von behelfsmässig errichteten Sandsack-Burgen, Bilder von verzweifelten Soldaten-Müttern und von endlosen Grabfeldern hinterlassen bei uns allen tiefe Spuren und ganz sicher auch ernsthafte Gedanken.
Ich spreche damit jetzt nicht denjenigen Teil der Schweizer Bevölkerung an, der unmittelbar nach dem Einmarsch der Russen in die Ukraine als erste Reaktion nur auf das eigene Wohl bedacht sich in der Apotheke mit Jodtabletten eindecken wollte und der sich bei der Gemeindeverwaltung (übrigens auch hier, bei uns in Meilen) erkundigte, wo sich ihr Zivilschutzkeller-Platz befände. Und es haben, eigentlich unglaublich, wohlbehütete Meilemer ganz ernsthaft ihren Wunsch deponiert, mit welchen Nachbarn sie dann auf keinen Fall im selben Keller einquartiert werden wollen.
Nein, ich meine vielmehr alle diejenigen, zum Glück die grosse Mehrheit, die Solidarität mit dem angegriffenen Volk verspüren und das auch mit Taten beweisen. Ich erinnere an die beiden im März spontan organisierten Sammlungen von Hilfsgütern in der Beugen und an die über 30 Meilemer Familien, die Flüchtlinge bei sich aufgenommen haben. Ich meine also all diejenigen, die sich bewusst sind, was Souveränität bedeutet und was dafür zu tun ist.
Auf jeden Fall ist bei uns allen, die wir in der Schweiz in Freiheit, in Sicherheit und im Wohlstand leben, tiefe Dankbarkeit angesagt. Dankbarkeit dafür, dass wir seit Jahrhunderten im Frieden leben dürfen.
Und so stellt sich die Frage, ob die Schweiz aus Dankbarkeit einen Beitrag leisten kann, um in der Ukraine nicht nur humanitär zu helfen, sondern um auch wieder Frieden herzustellen. Unsere Neutralität kann man in diesem Zusammenhang als Dilemma verstehen, weil unsere Sympathie zweifellos dem angeriffenen Land gehört, und weil es ebenso ausser Frage steht, einem Angreifer in die Hände zu spielen. Auf der anderen Seite aber wäre es verheerend, wenn die Schweiz ihre Neutralität, wie sie sich über 200 Jahre lang bewährt hat, aufgäbe.
Ich meine, dass die Eidgenosseschaft dann, wenn sie konsequent neutral bleibt, auch einen handfesteren Beitrag zum Frieden leisten kann. Ich denke an die Guten Dienste, die für die Schweiz eine lange Tradition haben und in unserer Aussenpolitik eine Schlüsselrolle spielen – oder spielen sollten! Die Schweiz kann Brücken bauen, weil sie keinem Pakt angehört und also auch keine versteckte Agenda verfolgt. Die Schweizer Diplomatie könnte Konfliktparteien bei der Suche nach einer Verhandlungslösung unterstützen, sie könnte auch selber eine Mediation anbieten.
Wer weiss, vielleicht ist nicht bloss der Wunsch Vater des Gedankens (und am Neujahr darf man ja Wünsche haben), dass die Schweiz in der Aussenpolitik eine aktivere Rolle einnimmt. Seit einer Woche ist die Schweiz nämlich Mitglied im UNO-Sicherheitsrat, dem wichtigsten politischen Gremium der Vereinten Nationen. Die Schweiz wird sich am Tisch des Sicherheitsrats auch mit den Grossmächten koordinieren müssen, kann Beziehungen knüpfen und wird sich hoffentlich mit ihren Guten Diensten für eine Briefträger-Funktion zwischen Russland und der Ukraine profilieren können. Zugunsten von mehr Frieden auf dieser Welt.
Allerdings sind realistischerweise auch Zweifel angebracht, ob mit der aktuellen russischen Regierung je ein einigermassen vernünftiger Partner an den Verhandlungstisch gebracht werden kann. Die russische Armee ist zusammengesetzt aus kruden Gestalten, solchen ohne Herkunft, die nichts zu verlieren haben. Putin ordert auf die Schnelle rekrutierte Halbwüchsige aus dem Ural und Strafgefangene an die Front – auf dass die Ukrainer auf sie schiessen und so ihre Munitionslager aufbrauchen. Die russischen Soldaten, so man diese bemitleidenswerten Gestalten überhaupt so benennen kann, sind also nichts anderes als buchstäbliches Kanonenfutter. Die Aggression von Russland ist ein Verstoss gegen jegliche Regeln des Völkerrechts. Es wird mit brachialer Gewalt und Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung vorgegangen. Das Leben der Ukrainer, aber genau so auch das Leben der eigenen Soldaten, ist Moskau nichts wert.
Der eigentliche Zweck bleibt unklar: Es kann ja nicht das Ziel sein, ein Volk (das vom Angreifer selber als Brudervolk bezeichnet wird) zu unterjochen, und es kann schon gar nicht das Ziel sein, ein Land, das man erobern will, zu zerbomben und sämtliche Infrastruktur kaputt zu schiessen. Der Aufbau wird unendlich viel Ressourcen kosten; das wird Russland gar nie stemmen können.
Es ist zu befürchten, dass es Putin auch nicht, mindestens nicht nur, um seinen Einfluss im Donbas geht. Das Ziel des Kreml wird nicht minder sein, mit einem möglichst langen Krieg nicht nur die Ukraine zu zermürben, sondern auch den Westen zu destabilisieren. Je länger der Konflikt andauert, desto mehr nimmt die Solidarität mit dem angegriffenen Staat ab, desto akuter wird die Energiekrise, desto grösser werden die wirtschaftlichen Verwerfungen. Und das muss uns Sorgen bereiten.
Sie stellen fest, liebe Meilemerinnen und Meilemer, mit dem Blick über die Gemeindegrenzen hinaus bin ich mir nicht sicher, ob im noch jungen Jahr 2023 wirklich Zuversicht angesagt ist. Aber die Hoffnung bleibt: Nämlich, dass der Widerstand im ukrainischen Volk ungebrochen bleibt, dass der Westen zusammensteht, und dass im Kreml vielleicht dann doch noch die Vernunft obsiegt.
Und so möchte ich zum Schluss, trotz schwierigen Zeiten, versöhnlich sein und – so viel Lokalpatriotismus sei erlaubt – ganz eigennützig auf unser schönes Meilen schauen: Wir haben das grosse Glück, dankbar, zufrieden und friedlich hier am Zürichsee wohnen zu dürfen. Wir haben das grosse Glück, ganz viele verantwortungsbewusste und engagierte Bürgerinnen und Bürger unter uns zu haben und ein vielseitiges Dorfleben geniessen zu dürfen. Und wir haben – eben: «Neues Jahr – neues Glück» – die Aussicht, uns auch im 2023 immer wieder unter Bekannten und Freunden zu treffen zu einem sorgenfreien Schwatz; so wie heute!
Und so habe ich für heute nochmals Elizabeth Teissier konsultiert: «Mars liefert einen Energieschub! Dieser wirkt wie ein Immunbooster. Jupiter tut der mentalen Gesundheit gut. Eine optimale Kombination zum Jahresbeginn.»
Es kann also nichts schief gehen. In diesem Sinn wünsche ich Ihnen allen, liebe Meilemerinnen und liebe Meilemer, herzlich Prosit und rundum alles Gute im neuen Jahr!
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