Amtliches, obligatorisches Publikationsorgan der Gemeinde Meilen
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Kleine Pläne und kleine Schritte

«Was bleibt, ist die Hoffnung»: Das war im April 2022 der Titel eines Artikels im Meilener Anzeiger über Flüchtlinge aus der Ukraine, die in Meilen Unterschlupf gefunden hatten. Heute wohnen sie noch immer bei Mischa Stöcklin an der Burgstrasse und versuchen, die Hoffnung nicht zu verlieren.

Gruppenbild mit Hund: Aliona (mit Evelina auf dem Schoss), Yurii und Nastia, Zhanna mit Dania und Alina (v.l.). Vorne mit Angelos: Mischa. Foto: zvg

Wie rasch die Zeit vergeht, Zhanna Zinchuk kann es nicht fassen. «Es ist, als ob erst zwei Monate vergangen wären, seitdem wir in der Schweiz sind, nicht schon zwei Jahre», sagt sie auf Englisch. Nach den Sommerferien wird ihr sechsjähriger Sohn Danylo, genannt Dania, im Schulhaus Allmend die erste Klasse besuchen. Das hätte sie sich auch nicht träumen lassen, sagt Zhanna, dass Dania dereinst nicht zu Hause in Schytomyr, etwa 120 Kilometer westlich von Kiew, eingeschult wird.

Aber so ist es nun: Nachdem sie und ihre Familie im letzten Herbst so etwas wie leise Hoffnung schöpften, dass der von Russland angezettelte Krieg vielleicht doch wundersamerweise von der Ukraine gewonnen werden kann, fehlt es dem angegriffenen Land jetzt an Mitteln für die Luftabwehr. Es gelingt den Russen immer besser, an der Ostfront vorzudringen und die Infrastruktur im Landesinneren zu zerstören.

Eine grosse Wohngemeinschaft

Zhanna und ihre Verwandten werden also vorläufig nicht nach Hause zurückkehren. Wie rund 65’000 ihrer Landsleute. Allein in der Gemeinde Meilen wohnen zurzeit 165 Ukrainerinnen und Ukrainer, davon ist rund ein Fünftel bei Privatpersonen untergebracht – in den ersten Monaten nach Kriegsbeginn waren es über die Hälfte. Die Solidarität war gross, und manch einer der Gastgeber dachte wohl, «es ist ja nur vorübergehend».

Auch Mischa Stöcklin hatte sich damals eher spontan dafür entschieden, Flüchtlinge aus der Ukraine aufzunehmen. Der Physiker wohnte allein mit seinem Hund Angelos in seinem grossen Elternhaus und hatte das Kriegsgeschehen mit wachsendem Entsetzen verfolgt. Inzwischen darf man wohl sagen, dass der 44-Jährige in den letzten zwei Jahren vom Einzelgänger quasi zum Hausvater einer grossen Wohngemeinschaft geworden ist.

Aktuell besteht diese aus sieben Personen: Zhanna Zinchuk mit ihrem Sohn Dania (6) und ihrer Tochter Alina (16) sowie Aliona Harkavenko, ihre erwachsene Tochter Nastia und ihre Enkelin Evelina (18 Monate), ausserdem ist Nastias Mann Yurii zu Besuch. Die 28-jährige Nastia hat Evelina Ende Oktober 2022 im Spital Zollikerberg zur Welt gebracht – ihre Schwangerschaft war damals auch der eigentliche Anlass dafür, im März 2022 aus Schytomyr zu fliehen. Das Baby sollte in Sicherheit sein und Nastia nicht allein reisen müssen. Wer in der Runde fehlt, ist Masha: Die nunmehr 21-Jährige ist an Ostern ausgezogen, wohnt mit ihrem Schweizer Freund in einer eigenen Wohnung und hat ein Praktikum bei einer international tätigen Firma begonnen, das zwei Jahre dauern soll.

Zwei volle Kühlschränke in der Küche

Dass das Zusammenleben von Mischa und seinen Gästen gut funktioniert, hat viel mit gegenseitigem Respekt zu tun – und wohl auch mit der Fähigkeit, auch mal Fünfe gerade sein zu lassen. Im verwinkelten Haus haben alle ein Plätzchen und eine Rückzugsmöglichkeit gefunden, Bücher, Kleidungsstücke und Spielsachen von Dania und Evelina liegen herum, gekocht wird nach Lust und Laune. «Es ist individueller als früher, jeder hat inzwischen seinen eigenen Rhythmus», sagt Mischa.

Aliona und Zhanna arbeiten für ihre alten ukrainischen Arbeitgeber online, Aliona vormittags, Zhanna ab dem Mittag. Gegessen wird nicht mehr grundsätzlich gemeinsam wie zu Beginn. Dafür stehen nun gleich zwei Kühlschränke in der Küche, «und die sind meist ziemlich voll», sagt Mischa lachend.

Schwierige Suche nach einer Lehrstelle

Grosses Thema ist zurzeit Alinas nähere Zukunft: Sie besucht die 3. Klasse der Sek A, schreibt gute Noten, spricht fast fliessend Deutsch und möchte unbedingt eine Lehrstelle finden. Doch in ihrem Wunschberuf Zeichnerin mit Fachrichtung Architektur sind die Ausbildungsplätze rar. Sie bezeichnet Kreativität und Mathematik als ihre Stärken, aber vielleicht würde ihr auch eine kaufmännische Lehre gefallen. «Wir suchen», sagt Mischa, und Alinas Mutter Zhanna seufzt, sie habe sich das tatsächlich einfacher vorgestellt.

Für die Zukunft zu planen in der Schweiz sei nach wie vor schwierig, sagt Zhanna. Auch wenn der Schutzstatus S für Ukrainerinnen und Ukrainer abermals verlängert wurde, bis zum 4. März 2025, gilt er als «rückkehrorientiert». «Small plans, little steps», sagt Zhanna: Nur kleine Pläne und kleine Schritte seien möglich. Obwohl sie 100 Prozent arbeitet und inzwischen in der Schweiz auch Steuern bezahlt, ist es für sie beispielsweise nahezu unmöglich, für sich und ihre zwei Kinder in Meilen eine Wohnung zu finden.

So ist die schwierige Situation doch häufig präsent. Und wenn schlimme Nachrichten aus der Ukraine auf dem Handy aufleuchten, beginnt das Telefonieren: Die Ukrainerinnen fragen sofort bei Verwandten und Freunden nach, ob sie wohlauf sind.

Wenigstens musste bisher keiner der Männer der Familie an der Front kämpfen. Zhannas Mann Vitaly ist bei der Nationalgarde von Schytomyr, die bei der Verteidigung der Stadt eingesetzt wird. Alionas Mann Oleksandr wird vorläufig noch durch eine leichte Behinderung vor dem Militärdienst geschützt, er war sogar schon in Meilen zu Besuch, wie jetzt auch Nastias Mann Yurii, der Vater der kleinen Evelina.

Herbstlicher Besuch in Schytomyr

Im letzten November besuchte Mischa seinerseits gemeinsam mit Aliona die Männer und die Grosseltern der Familie in der Ukraine. Sie fuhren über Lwiw bis nach Schytomyr und später nach Kiew und zurück. Dabei kamen sie auch in Butscha und Borodjanka vorbei, die in der Nähe liegen. In den zerstörten Städten sahen sie die Strassen, auf denen gemordet wurde, sie sahen halbierte Häuser mit halbierten Wohnungen und zerstörte Gebäude, und sie trafen auf Menschen, die immer noch dort leben. Mischa, der inzwischen etwas Ukrainisch spricht, unterhielt sich mit ihnen. «Sehr surreal» sei das gewesen, genauso die vielen Bombenalarme, an die man sich aber rasch gewöhne. Man lerne bald, zu unterscheiden, ob es angezeigt ist, einen Schutzraum aufzusuchen oder nicht. Die entsprechenden Infos gibt es durch den Messaging-Dienst Telegram.

Mischa hatte lange gezögert, die Ukraine und die dort gebliebenen Familienmitglieder zu besuchen – dies auch aus einem speziellen Grund. «Kurz nach der Ankunft der Familie war ich mit Masha draussen auf der Terrasse», erzählt er. «Es war schon dunkel, alle anderen lagen im Bett. Masha, die sonst immer so stark schien, erzählte mir, dass sie furchtbare Angst habe, ihren Vater nie mehr lebend zu sehen.» Wie tröstet man in einem solchen Moment? Mischa sagte aus einer Eingebung heraus: «Dein Vater wird nicht sterben, denn ich muss ihn unbedingt kennenlernen.» Nachdem dies bei dessen Besuch in der Schweiz dann auch der Fall war, habe er ein paar Mal den irrationalen Gedanken gehabt, auch Zhannas Ehemann Vitaliy sei geschützt, solange er ihn nicht persönlich getroffen habe.

Mischa brachte aus der Schweiz Fondue nach Schytomyr und kehrte im Gegenzug nach Meilen zurück mit einer ganzen Auswahl an Wyschywankas, Hemden mit traditionellem Kreuzstich-Muster in vielen Farben. Auch Aliona stickt in ihrer Freizeit mit winzigen Kreuzstichen Bilder und zeigt Motive von Meeresschiffen bis Hunderudel. Und Mischa hat an den Wänden inzwischen etliche Bilder, die noch aus der Sammlung seines Grossvaters stammen, mit Zeichnungen und Fotos seiner neuen Familie ersetzt.

Teil 1 der Geschichte von Mischa und den Flüchtlingen aus der Ukraine: Meilener Anzeiger Nr. 14/2022, S. 1; Teil 2 Nr. 15/2022, S. 3. 

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