Offizielle Anlässe dauern in China länger als in Europa. Sorgfalt in der liturgischen Gestaltung des öffentlichen Lebens ist fundamentaler Bestandteil chinesischer Kultur. Konfuzius, der auch nach Kulturrevolution und wirtschaftlicher Liberalisierung die chinesische Kultur prägt, verfasste einen bedeutenden Klassiker über Riten und Verhaltensregeln.

Ritual und Liturgie machen soziale Verhältnisse sichtbar und dienen ihrer Einübung: In einer Gesellschaft, die von Beziehungen statt Gesetzen geprägt ist, muss erkennbar sein, wer in welcher Beziehung zu wem steht. Das ständige Fotografieren ist deshalb nicht blosse Obsession, sondern visualisiert gesellschaftliche Ordnung.

Auch nach Jahren im chinesischen Kontext muss man manchmal noch lernen, wie wichtig die Teilnahme an liturgischen Abläufen ist. Oft spürt man Ungeduld während langer Zeremonien. Erfolgreiche Teilnahme bedeutet, sich einer gelassenen Passivität hinzugeben: sich fotografieren lassen, Grussworte sprechen, lange Essen aussitzen.

Die Taoisten nennen diese Haltung «wu wei» – ein Nicht-Handeln, die Aufgabe von Kontrolle und Einfügung in den natürlichen Fluss. Rituale bieten Gelegenheit zur spirituellen Übung. Und dann, plötzlich ist die Liturgie zu Ende – die Starre löst sich, ein Ruck geht durch die Menge und alle schalten einen schnelleren Gang ein.

Im Anschluss an den Vortrag gibt es einen Apéro, zu dem alle Anwesenden herzlich eingeladen sind.

«Zwischenräume» theologisch, Mittwoch, 11. Juni, 19.15 Uhr im Chilesaal mit Pfarrer Erich Wyss und Professor Tobias Brandner, anschliessend Apéro.