Amtliches, obligatorisches Publikationsorgan der Gemeinde Meilen
AZ Meilen · Bahnhofstrasse 28 · 8706 Meilen · Telefon 044 923 88 33 · info(at)meileneranzeiger.ch

Amtliches, obligatorisches Publikationsorgan der Gemeinde Meilen

In Demut Brücken bauen

Die Gegenwart ist von grossen Herausforderungen geprägt. Kriege nicht weit von hier, wirtschaftliche Unsicherheiten und politische Spannungen belasten das Zusammenleben. Polarisierungen gehören zum Alltag, der Ton ist rau, das Gemeinsame gerät leicht aus dem Blick.

Leitartikel Bettag_web
1848 wurde mit der Schweizer Bundesverfassung der Neuanfang gewagt. Foto: wikimedia commons, Hadi

Gerade in solch unsicheren Zeiten lohnt sich der Blick auf die Tradition des Eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettags. Diese Tradition ist nicht aus ruhigen Tagen hervorgegangen, sondern aus einer Phase tiefster Spannungen. Darum kann sie auch heute Orientierung geben.

Im Sonderbundskrieg von 1847 – dem letzten bewaffneten Konflikt auf Schweizer Boden – traten konfessionell-politische Gegensätze offen zutage. Liberale, mehrheitlich reformierte Kantone standen einer Allianz von sieben katholisch-konservativen Kantonen gegenüber. Nach einem kurzen, heftigen Konflikt gelang es jedoch, Frieden zu schliessen. Und schon ein Jahr später, 1848, wurde mit der Schweizer Bundesverfassung der Neuanfang gewagt: Sie legte die Grundlage für das Zusammenleben – getragen von gemeinsamen politischen und wirtschaftlichen Interessen.

Im Namen Gottes

Doch dieser Neuanfang hatte noch eine tiefere Dimension. Er lebte nicht allein von politischer Vernunft und ökonomischem Ausgleich, sondern ebenso von einer religiösen Einsicht. Reformierte und Katholiken besannen sich darauf, dass sie im Glauben an denselben Gott verbunden sind. Nicht zufällig beginnt die Schweizer Bundesverfassung mit den Worten: «Im Namen Gottes des Allmächtigen».

Der Bettag erhielt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung. Er erinnert an das gemeinsame Bewusstsein der Transzendenz: dass Menschen vor Gott stehen, als endliche und begrenzte Wesen. Wer diese Begrenzung anerkennt, lernt Demut – das Bewusstsein, dass die Welt weder am eigenen Wesen genesen kann noch genesen muss. Gerade diese Haltung macht fähig, von sich selbst abzusehen, auf den anderen zuzugehen, das Gemeinsame zu suchen und Frieden zu schliessen.

Gegensätze überwinden

Gottfried Keller, Dichter und Zürcher Staatsschreiber, hat dies 1863 in einem Bettagsmandat eindrücklich formuliert: «An diesem Tag treten die Eidgenossen vor Gott, ihren alleinigen Herrn, und prüfen ihre Gewissen.» Der Bettag, so Keller, soll helfen, die Gegensätze im Vaterlande zu überwinden und daran zu erinnern, dass die Eidgenossen ein Volk sind, verbunden durch gemeinsame Treue und Pflichten.

Auch heute sind Gegensätze ein grosses Problem. Die Fronten haben sich verhärtet. Menschen leben mehr gegeneinander, als dass sie aufeinander zugehen. Was fehlt, ist Demut – jene Haltung, die den Menschen als endliches Wesen anerkennt und ihn von der Hybris befreit, alles nach der eigenen Vorstellung ordnen zu wollen.

Demut bedeutet: die eigene Begrenztheit anzunehmen, die Transzendenz zu achten, sich von der Überlastung des «Alles-selbst-machen-Müssens» zu lösen und den Blick für das Gemeinsame zu öffnen. Sie macht fähig, von sich selbst abzusehen, auf den anderen zuzugehen und Frieden zu suchen. Darin zeigt sich die bleibende Bedeutung des Bettags – damals wie heute. Und darin liegt auch die Kraft, Brücken zu bauen, statt Gräben zu vertiefen.

teilen
teilen
teilen
XING
WhatsApp

Weitere aktuelle Artikel in der Kategorie Kultur / Politik

Weiterlesen
Weiterlesen
Weiterlesen