Amtliches, obligatorisches Publikationsorgan der Gemeinde Meilen
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Amtliches, obligatorisches Publikationsorgan der Gemeinde Meilen
Weihnachten erzählt seit Jahrhunderten eine Geschichte, die zugleich einfach und tiefgründig ist. Ein Kind in einer Krippe, geboren in Armut und Unsicherheit, verändert die Welt. Nicht durch Macht und Gewalt, sondern durch Wahrhaftigkeit und Menschlichkeit.

Dieser Gedanke hat bis heute Kraft. Im Mittelpunkt des Geschehens steht ein Mensch mit all seinen Begabungen und Grenzen, Verletzlichkeiten und Bedürfnissen. Es geht um den ganzen Menschen und nicht nur um seine brillanten Seiten. Auch das Schwache und Dunkle an uns, das wir lieber nicht in den Vordergrund stellen, darf dasein, weil es zu unserer Ganzheit beiträgt. Carl Gustav Jung fragte: «Möchtest du lieber ganz sein oder gut?» Der Mensch tut sich schwer, das an sich anzunehmen und auszuhalten, worauf er nicht stolz ist. Lieber möchten wir ein Idealbild von uns zeigen. Was diesem nicht entspricht, wird unter ständigem Kraftaufwand in den Untergrund verbannt. Die Folge davon ist der Verzicht darauf, ganz zu sein. Auf dem Weg der Menschwerdung ist aber die Integration des Verbannten notwendig.
Das hilflose Kind wird zum Zeichen wahrer Grösse
Meistens suchen wir das Vollkommene im Erhabenen, im Unantastbaren, im Übermenschlichen. An Weihnachten offenbart sich ein Paradoxon. Der Allmächtige wählt nicht den Thron, sondern den Stall, nicht Stärke, sondern Schwäche, nicht Distanz, sondern Nähe. Das hilflose Kind wird zum Zeichen der wahren Grösse.
Wir begegnen einem Gott, der nicht abgehoben und weit weg ist, nicht eine ferne Instanz, die aus der Distanz lenkt. Vielmehr tritt Gott ein in die konkrete, zerbrechliche Welt des Menschseins. Er teilt unser Leben – das Gelingen, das Scheitern, die Freude und den Zweifel. Dieser Gedanke ermutigt und erleichtert gleichermassen, weil er unsere inneren Bewertungen verändert und Druck herausnimmt. Wenn Gott selbst menschliche Grenzen auf sich nimmt, dann sind unsere eigenen Grenzen keine Fehler, sondern Teil eines Weges, auf dem wir sind und wachsen dürfen.
Liebe zeigt sich in der Reaktion auf Verletzlichkeit
Vielleicht ist gerade das die Botschaft des Festes. Liebe zeigt sich nicht in Überlegenheit, sondern in Verletzlichkeit. Wahre Nähe entsteht dort, wo wir nicht beeindrucken müssen, wo wir uns zeigen dürfen, wie wir wirklich sind. Ein Satz, der dies treffend formuliert, wird oft dem deutschen Philosophen Theodor W. Adorno zugeschrieben und meist so wiedergegeben: «Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren.»
Liebe lebt vom Mut, sich schwach zu zeigen, und misst sich an der Reaktion darauf. Gelebtes gegenseitiges Vertrauen ist der Kern jeder Beziehung – zwischen Menschen wie auch zwischen Gott und Mensch. Wenn Menschen auf dieser Ebene miteinander unterwegs sind, unterstützen sie sich im Ganzwerden. Es erfordert Reife, sich mit seinen verborgenen Seiten auseinanderzusetzen, doch es ist der Weg, der in die Freiheit führt. Wer ihn wagt, tut im Letzten sich selbst etwas Gutes.
Das Gelingen und die Brüche im Leben annehmen
Weihnachten lädt uns ein, das Menschliche ernst zu nehmen – unsere Begabungen mit allem, was gelingt und worauf wir stolz sind, sowie unsere Grenzen, die uns nicht trennen, sondern miteinander verbinden. Es ist ein Fest, das befreit. Im Kind in der Krippe liegt unscheinbar die lichtvolle Anziehungskraft der stillen Nacht. In diesem Licht wird deutlich: Ganz werden bedeutet, die eigenen Grenzen und das Verletzliche anzunehmen, ohne Scham, und darin die eigene Kraft zu erkennen. Ganz werden heisst, das Leben so zu sehen, wie es ist – mit allem Gelingen und allen Brüchen – und den Mut zu haben, sich selbst zu begegnen.
Ich wünsche Ihnen gesegnete Weihnachten.