Amtliches, obligatorisches Publikationsorgan der Gemeinde Meilen
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Der Griff nach den Sternen

Vor 300 Jahren, am Karfreitag 1724, fand in der Leipziger Nikolaikirche die Uraufführung von Johann Sebastian Bachs «Johannespassion» statt. Dass sich die Kantorei Meilen unter Ernst Buscagne dem Sakralwerk in zwei eindrücklichen Aufführungen nun angenommen hat, verdient uneingeschränkte Wertschätzung. 

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Vor und nach J.S. Bach nahmen sich noch weitere 27 Komponisten der biblischen Leidensgeschichte Jesu Christi an. Die Stellung des barocken Passionsoratoriums nimmt in der Gattungsgeschichte eine einzigartige Stellung ein. Wenn die herausragende Version Bachs nun zur Passionszeit zum 300. Geburtstag auf allen Kanälen, in vielen Kirchen und Konzertsälen erklingt, ist dies ein beispielloses Bekenntnis zu einem der begnadetsten christlichen Tonschöpfer der abendländischen Musikgeschichte.

Martin Luther und das Johannesevangelium

Bach nutzt die Bibeltexte Martin Luthers sehr akribisch, indem er diese als zentrale Grundlage beibehält und die Tradition der Gemeindelieder mit den Chorälen in die Passionserzählung integriert. Das Johannes-Evangelium ist geprägt von der vergleichsweise knappen Schilderung von der Gefangennahme Christi bis zum Begräbnis. Bach hatte sich den Regeln der Leipziger Kirchenoberen zu fügen: Dort gehörte die Passionsmusik noch fest zur Liturgie der Karfreitagsvesper und musste deshalb den vollständigen Evangelientext enthalten. Durch freie Dichtung und Choralstrophen durfte er immerhin ergänzt werden.

Bach hat dies an zwei bemerkenswerten Stellen getan: Die Worte nach dem Hahnenschrei, wo klar wird, dass Petrus Jesus verleugnet hat, und die Schilderung des Erdbebens sind dem Matthäus-Evangelium entnommen. So erweitert Bach die knappe Schilderung bei Johannes und gibt ihr eine stimmige musikalische Kraft. Von einprägsamer Wirkung sind die Chöre der Juden. Bachs Musik klingt variantenreich, klar strukturiert, ja geradezu theatralisch. Wenn ihm mitunter von Zeitgenossen eine opernhafte Attitüde unterstellt wurde, so hat das Oratorium gerade durch seine «unerreichte Bildhaftigkeit» (John Eliot Gardiner), die Spannungsbögen und den orchestralen Liebreiz mit seinen aufgerauten Dissonanzen zur zeitlosen Inhärenz beigetragen.

Ernst Buscagne und die Kantorei Meilen

Alpha und Omega. Anfang und Ende. Bei Bach sind Einstieg und Abschluss besonders einprägsam. Deshalb gehen einem die ersten Takte der Holzbläser und Streicher, ihr unnachahmlich sehnendes und tröstendes Fluidum direkt ins Herz, und die beiden Schlusschoräle «Ruht wohl» und «Ach Herr» entreissen alles dem Flüchtigen und Beliebigen. Wenn zeitloser Glaubwürdigkeit eine Deutung abzugewinnen ist, dann ist sie hier zu finden.

Meilen und Egg schienen nach diesem Projekt zu dürsten, waren doch die beiden reformierten Kirchen bis auf den letzten Platz belegt. Das ist insbesondere das Verdienst des Kirchenmusikers und Dirigenten Ernst Buscagne, der ab 2009 erst im Singkreis Egg und seit 2015 in Meilen in vielfältiger Leitungsfunktion eine wachsende Neugier entfachte, auf beachtlichem Niveau zu musizieren. Er ist auch ein begnadeter Musikpädagoge, der alle Alters- und Niveaustufen für seine Ziele einzunehmen weiss. Das zeigte auch der Einbezug eines Projektchors, der die volkstümlichen Choräle ganz im Sinne Bachs sinnfällig beisteuerte. Buscagnes pulsierende, werkimmanente Zeichengebung, gepaart mit dramatisch ziselierten Einwürfen, wusste zu fesseln, und das stimmlich austarierte Vokalensemble folgte ihm äusserst diszipliniert und homogen.

Der Griff nach den Sternen glückte den Solisten unterschiedlich. Der Evangelist Rodrigo Carreto gefiel durch eine ungemein agile, lautmalerische und differenzierte Phrasierung, aber auch der Mezzo von Ingrid Alexandre reihte sich punkto Artikulation und Wohlklang harmonisch ein. Der instrumentale Konterpart war beim eloquenten Meilener Barockensemble, Barbara Meldau an der Orgel und Ursula Emch am Cembalo auf betörende Weise sichergestellt.

Dass diese Johannespassion keine Eintagsfliege war, belegt die angekündigte J.S.-Bach-Musikreihe Meilen,  die vom 14. April bis 25. Dezember den Klangkosmos Bach in reizvollen Facetten in Erinnerungen ruft.

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