Amtliches, obligatorisches Publikationsorgan der Gemeinde Meilen
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Amtliches, obligatorisches Publikationsorgan der Gemeinde Meilen

Annäherung an einen berühmten Meilemer

Die Gedenkfeier zum 100. Todestag von General Ulrich Wille im «Löwen» war äusserst gut besucht. Im übervollen Saal wurde einer schillernden Persönlichkeit gedacht.

Bis auf den sprichwörtlichen letzten Platz besetzt: Der Jürg-Wille-Saal des «Löwen». Fotos: MAZ

Als die Gemeinde im Sommer 2024 an die Planung der Veranstaltung ging, habe man man mit hundert, vielleicht zweihundert Besuchern gerechnet, sagte Gemeindepräsident Dr. Christoph Hiller am Donnerstag letzter Woche kurz nach 18 Uhr im dann noch leeren Jürg-Wille-Saal des Gasthofs Löwen. Ob die 350 bereitgestellten Stühle wirklich alle besetzt werden würden, nehme ihn nun selber wunder.

Publikum muss abgewiesen werden

Sie wurden – und mehr als das. Selbst auf der Galerie gab es schon bald keinen freien Platz mehr, etliche Besucher standen im Saal den Wänden entlang oder setzten sich auf die Fenstersimse. Eine Viertelstunde vor Beginn wies die Gemeindepolizei weiteres Publikum ab, «der Wirt hat das feuerpolizeilich Mögliche bereits ausgeschöpft», sagte ein Polizist zu einem Besucher. Der ärgerte sich: «Ich bin extra viele Kilometer weit gefahren, um hier dabeizusein!», sagte er. Am Ende mussten rund hundert Interessierte wieder umkehren.

Eine ältere Dame erzählte, ihr Grossvater habe beim Generalstreik 1918 mitgemacht, und sie sei geschichtlich interessiert. Sie war aus dem Safiental angereist. Auch das Meilemer Publikum, mehrheitlich älteren Jahrgangs, freute sich sichtlich auf das Programm. Mit einem Filmteam vor Ort war das SRF-Nachrichtenmagazin «10vor10», das dem Anlass am Freitag einen gut fünfminütigen Beitrag widmete, und auch etliche Vertreter von Printmedien waren anwesend.

Warmer Applaus für Thomas Süssli

General Ulrich Wille, der Oberbefehlshaber der Schweizer Armee im Ersten Weltkrieg, fasziniert offenbar bis heute. Er starb vor 100 Jahren am 31. Januar 1925 im 77. Altersjahr im Feldmeilemer «Mariafeld», das seit Mitte des 19. Jahrhunderts und bis heute der Familie des Generals gehört. Diese war am Anlass gut vertreten: Urenkel und Ururenkel von Ulrich Wille sassen in den ersten Reihen. Ganz besonders begrüsste der Gemeindepräsident die «liebe Christine», die Witwe von Jürg Wille, nach dem der Löwen-Saal benannt ist; Jürg Wille war ein Enkel des Generals.

Wichtigster Anwesender des Abends: Thomas Süssli, seit 2020 Chef der Schweizer Armee, begleitet von einem Personenschützer und ganz zuvorderst neben Christoph Blocher und Gattin Silvia sowie Regierungsrat Mario Fehr sitzend. Wie Christoph Hiller verriet, ist der Armeechef «eigentlich ein Meilemer»: Er wurde nämlich in Meilen geboren und wohnte nach einem Aufenthalt der Familie in Küsnacht zehn Jahre lang ausgerechnet an der General-Wille-Strasse. Süssli wurde mit warmem Applaus empfangen, trotz der aktuellen Probleme der Schweizer Armee mit Verzögerungen und Komplikationen bei diversen Projekten.

Meilen und der General

Bevor Thomas Süssli die Festrede hielt, spielte das Militärspiel Logistikbrigade 1 auf. Von Mani Matters «Hemmige» ging es zur Nationalhymne, worauf sich alle Besucher erhoben und mitsangen. Auch acht Tamboure brachten den Saal zum Beben.

Gemeindepräsident Christoph Hiller erinnerte daran, dass es bereits vor 50 Jahren eine Feier für den General gegeben hat, damals mit einer Kranzniederlegung an Willes heute noch bestehendem Grab auf dem Meilemer Friedhof. Die Eröffnungsrede hielt 1975 der junge Gemeinderat Dr. Christoph Blocher. Mit Bildern und Fotos beschrieb Hiller anschliessend die Herkunft der Familie Wille (damals noch Vuille) aus La Sagne im Kanton Neuenburg und das Leben des Generals in Meilen.

Besonders betonte er die Offenheit der Bewohner des «Mariafeld», das immer ein Mittelpunkt des kulturellen und musischen Lebens gewesen sei, mit Besuchen vieler Prominenter von Richard Wagner bis Gottfried Keller. Heute besichtigen Primarschulkinder die Räume, in denen Wille wohnte, die alljährliche Sommerserenade des Sinfonie Orchesters Meilen im Hof des Mariafeld ist immer ein Highlight, und das Atelier-Theater bespielt die Heubühne in der angebauten Scheune schon seit vielen Jahren. Ulrich Wille war vor dem Krieg übrigens auch Mitglied der Feuerwehr Meilen und 1901 bis 1906 Sekundarschulpflegepräsident.

Erster Ehrenbürger der Gemeinde

1915 wurde der General vom Gemeinderat zum ersten Meilemer Ehrenbürger ernannt (später folgten der ehemalige Gemeindepräsident Hans Hauser und Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross). Das nach seinem Tod vom Verkehrs- und Verschönerungsverein geplante Reiterstandbild im Rebberg vor dem Mariafeld indes wurde von der Familie dankend abgelehnt. Doch erhielt die Alte Landstrasse zwischen Dorf- und Feldmeilen den Namen General-Wille-Strasse.

Ulrich Wille ist bis heute eine kontroverse Figur: Seine Begeisterung für die preussische Militärkultur stiess in der Schweiz auf Widerspruch und Widerstand, und dies umso mehr, je länger der Krieg dauerte. Tatsache ist: Die Schweizer Milizarmee war auf den 1. Weltkrieg nicht ausreichend vorbereitet, und Wille stand vor der schwierigen Aufgabe, sie trotz mangelhafter Ausrüstung «kriegstauglich» zu machen.

Parallelen zum Ersten Weltkrieg

In seiner Festrede sagte Armeechef Süssli, dass auch heute die Schweiz an einem Punkt stehe, an dem sie ihre Verteidigungsfähigkeit wiedererlangen müsse: «Schon im Ersten Weltkrieg erkannte die Schweiz geopolitische Entwicklungen zu spät, das ist eine Parallele zu heute.» Er berichtete von seinem Austausch mit ausländischen Armeechefs und sprach von einer Zeitenwende: «Neu herrscht das Recht der Macht statt die Macht des Rechts.» Deshalb müsse das Land fähig sein, glaubhaft zu machen, die Neutralität verteidigen zu können. Mit einer agilen Armee müsse man den Feind so lange aufhalten können, «bis der Feind des Feindes uns hilft» – ein Ausspruch von General Wille. «Vorbeugen ist besser als heilen» habe der General ebenfalls gerne gesagt.

Wer war Wille?

In der folgenden Expertenrunde ging es auch um die Frage «Wer war Wille?» Sein Werdegang ist bekannt: 1848 geboren in Hamburg, mit den erwähnten Vorfahren aus dem Kanton Neuenburg. Bald übersiedelte die Familie nach Feldmeilen. Jus-Studium in Zürich und Deutschland, verheiratet mit der deutschen Gräfin Clara von Bismarck. Preussischen Drill lernte Wille als angehender Instruktionsoffizier 1871 in Berlin, in der Schweiz arbeitete er ab 1872 in Thun als Instruktor. Aufstieg zum Oberst und Waffenchef der Kavallerie. Später war er Professor für Militärwissenschaften an der ETH Zürich, und im August 1914 wurde er von der Bundesversammlung zum Weltkriegs-General gewählt.

Das Experten-Podium unter der Leitung von Prof. Dr. Rudolf Jaun (Dozent an der Militärakademie der ETH Zürich) – bestehend aus Dr. Daniel Lätsch (Brigadier und ehemaliger Direktor der Militärakademie der ETH), Dr. Lea Moliterni Eberle (Historikerin) und Dr. Michael Olsansky (Dozent an der Militärakademie der ETH) – versuchte, dem Menschen Ulrich Wille auf die Spur zu kommen, der laut Rudolf Jaun «verklärt und verdunkelt» wurde und «vor allem bei den über 60-Jährigen immer noch sehr in den Köpfen präsent» sei. Wille habe keine Halbheiten geduldet, einen Erziehungsprozess eingeleitet und von den Milizsoldaten jederzeit «Appell» verlangt, sprich, gespannte Aufmerksamkeit. Ausrüstungslücken sollten mit Drill wettgemacht werden.

Für die Schweiz zu resolut

Was Wille schon immer gut konnte, war schreiben. Er musste zwar keinen einzigen Operationsbefehl herausgeben oder unterschreiben, weil die Schweiz von direkten Kriegshandlungen verschont blieb, aber er betätigte sich zeit seines Lebens als Militärjournalist und -schrifsteller und verfssste bedeutende militärische Texte, «immer sehr geistreich und belesen», so Jaun.

Weniger bekannt ist seine Rolle als Gnadenherr der Militärjustiz, die Lea Moliterni aufzeigte: Über 3500 Gnadengesuche gelangten an Wille, er reagierte mit exakten Aufträgen, um jeweils genauer herauszufinden, ob die Darstellung der Verurteilten wirklich stimmte. «Wille war ein hochemotionaler Mensch, der Mitgefühl für die Sorgen und Nöte seiner Soldaten hatte», sagte Lea Moliterni: «Er hat häufig begnadigt.»

«Truppennah» sei Wille aber nicht gewesen, meinte Daniel Lätsch, «eher ein Denker mit spitzer Feder». Als «Führungsphilosoph» habe er sich weit über das Militär hinaus Gedanken gemacht. Auch Michael Olsansky empfindet Willes Texte als «fast Martin-Luther-mässig»: «Wille sagt letztlich ‘Hier stehe ich, ich kann nicht anders’.» Als Mensch sei er gütig gewesen, nicht gnadenlos – allerdings von der Persönlichkeit her ein beeindruckender Tausendsassa und dadurch «für die Schweiz manchmal zu resolut».

Gut möglich ist, dass der Persönlichkeit Willes bald weitere Facetten hinzugefügt werden, denn eben wurde sein privater Nachlass von der Familie der Zentralbibliothek Zürich übergeben.

Clevner und ein Bhaltis

Nach dem Podiumsgespräch wurden alle Anwesenden vom Gemeindepräsidenten zu Meilemer Clevner und Räuschling eingeladen. Und ein «Bhaltis» gab es auch noch, nämlich das Büchlein «General Wille, ein bekämpfter und verehrter Schweizer Offizier» von Rudolf Jaun, das mit einem Druckkostenbeitrag der Gemeinde Meilen entstanden ist.

Christoph Hiller zeigte sich überwältigt und «auch etwas stolz» auf das grosse Echo auf die Feier – schweizweit die einzige im Gedenken an den General. Im Gemeindehaus ist Wille sowieso immer anwesend, denn sein Porträt, das früher im Gemeinderatssaal hing, ist anlässlich des Neubaus vor gut zehn Jahren ins Büro des Gemeindepräsidenten umgezogen und blickt dort seither von der Wand.

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