Amtliches, obligatorisches Publikationsorgan der Gemeinde Meilen
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Amtliches, obligatorisches Publikationsorgan der Gemeinde Meilen

«Wir hören viele Komplimente aus der Bevölkerung und von Flüchtlingen»

Die grösste Flüchtlingskrise in Europa seit Jahrzehnten ist auch in den Schweizer Gemeinden angekommen. Sandra Hagmann gibt Auskunft über die Situation in Meilen: Sie ist bei der Sozialbehörde für das Asylwesen zuständig.

Sandra Hagmann: «Die Gemeinde hat von Anfang an kompetent gehandelt.» Fotos: MAZ

Sandra Hagmann wohnt seit sechs Jahren in Meilen und wurde 2018 für die SP in die Sozialbehörde gewählt; sie wird ihr Amt im Sommer abgeben. Die Tourismusfachfrau HF und eidg. dipl. Verkaufsleiterin hat zwei Kinder, die in Meilen in den Kindergarten und zur Schule gehen und arbeitet bei der Caritas Zürich. Dort ist sie für das Grossgönner- und Stiftungsfundraising zuständig.

Sandra Hagmann, haben Sie auch bei Ihrer Arbeit bei der Caritas direkt mit Flüchtlingen aus der Ukraine zu tun?

Mein Bereich ist die Projektfinanzierung, weshalb ich in meiner Arbeit wenig direkten Kontakt mit Flüchtlingen habe. Ich nehme jedoch täglich viele Flüchtlinge wahr. Die meisten Ukrainerinnen kommen mit dem Zug im Hauptbahnhof Zürich an, und bis zu 200 Personen pro Tag melden sich tatsächlich direkt bei uns am Hauptsitz. Der Kanton Zürich ist der Hotspot der Flüchtlinge. In diesem Moment, wo die Geflüchteten bei Caritas Zürich am Empfang stehen, leisten wir wo nötig Soforthilfe, beraten sie und nehmen eine erste Triage vor. Dafür haben wir eine Fachperson, die ursprünglich aus der Ukraine stammt, eingestellt.

Es sind vorwiegend Frauen?

Ja, es sind fast nur Frauen mit ihren Kindern, seltener auch Grosseltern. Auch in Meilen kann man die Männer an den Fingern einer Hand abzählen. In unserer Gemeinde waren am Donnerstag letzter Woche insgesamt 90 Flüchtlinge aus der Ukraine gemeldet, etwas mehr Erwachsene als Kinder. Die Zahl ist nach wie vor steigend.

Auf wie viele Flüchtlinge stellt man sich in Meilen insgesamt ein?

Die Gemeinden im Kanton Zürich müssen auf 1000 Einwohner 9 Personen aufnehmen. Für Meilen heisst das 132 Asylsuchende insgesamt. Zu den bisher hier untergebrachten 55 Asylsuchenden sind seit Kriegsbeginn 90 Flüchtlinge aus der Ukraine dazugekommen. Meilen hat die Quote also bereits erreicht; es ist allerdings damit zu rechnen, dass der Kanton den Prozentsatz von 0,9 in den nächsten Monaten nochmals erhöhen wird.

Wie sieht es bei der Unterbringung aus?

Mit Abstand der grösste Anteil ist privat untergebracht. Hier gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder werden uns Flüchtlinge vom Kanton zugewiesen und die Gemeinde kümmert sich um die Unterbringung in Gastfamilien, die sich bei uns gemeldet haben und als passend in Frage kommen. Die andere Option ist es, dass Ukrainerinnen direkt zu uns kommen, ohne eine Zuweisung vom Kanton. Dies geschieht manchmal über Verwandte oder Bekannte, über Social-Media-Kontaktaufnahme oder über Hilfswerke wie Campax oder HEKS, die direkt vermitteln. Neben den privaten Unterkünften verfügt die Gemeinde über eigene Objekte; im eigenen Portfolio oder zugemietet. Wie gesagt, der Grossteil ist aber vorläufig noch privat untergebracht.

Die Firma ORS Service AG hat von der Gemeinde Meilen ein Mandat für die Betreuung aller Asylsuchenden.

Ja, seit 19 Jahren haben wir die Unterstützung, Betreuung und Integration der Asylsuchenden an die ORS ausgelagert. Vorletztes Jahr wurde der Auftrag öffentlich neu ausgeschrieben; ORS hat sich gegen zwei weitere Bewerber durchgesetzt. Der Vorteil einer Auslagerung ist unter anderem, dass eine grosse Organisation wie die ORS selbst Integrationsangebote hat, über eine grosse Erfahrung verfügt und Zusatzleistungen wie 24/7 Pikett-Dienste, Dolmetscher-Service etc. nach Bedarf anbietet.

Ist das nicht schwierig, sowohl für die Flüchtlinge als auch für die Gastfamilien, wenn man nicht einfach rasch ins Gemeindehaus gehen und sich von Angesicht zu Angesicht mit jemandem unterhalten kann?

Die Mitarbeitenden der ORS sind regelmässig vor Ort und stehen auch telefonisch kompetent Rede und Antwort. Die Betreuung in den durch uns zugewiesenen Gastfamilien findet durch eine bewährte und fix zugeteilte Person von ORS statt.

Stichwort Kommunikation: Gerade zu Beginn schien diese seitens Gemeinde nicht immer optimal.

Dem ist dezidiert zu widersprechen. Kaum war die ausserordentliche Situation der Corona-Pandemie vorbei, wurden wir mit den Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine konfrontiert. Wir haben aktuell mehr Flüchtlinge aus der Ukraine bei uns als in den letzten drei, vier Jahren insgesamt, man musste also auf einen Schlag alle Kontingente hochfahren, ohne zusätzliche Ressourcen. Das ist eine grosse Herausforderung, die alle Involvierten rasch gut meisterten. Ein Sonderstab koordiniert alle betroffenen Ressorts der Gemeinde; die Sozialabteilung und ORS haben von Anfang an kompetent gehandelt. Entsprechend hörten wir auch viele Komplimente aus der Bevölkerung und von Flüchtlingen.

Die Meilemerinnen und Meilemer wollten helfen.

Das hat mich persönlich überwältigt! Diese grosse Solidarität für Menschen aus der Ukraine konnte und kann man in Meilen sehr gut spüren, und die Meilemerinnen und Meilemer wollten sofort tatkräftig, herzlich und grosszügig helfen. Dies hat sicher damit zu tun, dass dieser Krieg uns irgendwie machtlos macht. Darum wollten wir dort Gutes bewegen, wo wir konnten. Diese unzähligen Hilfsangebote mussten wir aber am Anfang gut koordinieren. In diesem Zusammenhang ist auch der Flyer für Geflüchtete entstanden, der auf der Webseite der Gemeinde zu finden ist. Es ist schön zu sehen, dass diese Hilfsbereitschaft immer noch anhält.

Wie sehen die finanziellen Leistungen für die Flüchtlinge aus?

Es ist nicht ganz einfach zu erklären, denn es hängt davon ab, ob jemand bereits den Status S erhalten hat und Meilen zugewiesen ist oder nicht. Bis zur Zuweisung ist die Meilemer Sozialabteilung zuständig, nachher ist es die ORS. Die Asylfürsorgeleistung beträgt 436 Franken pro Person und Monat, auch für Kinder. Vor der offiziellen Zuweisung kann man auf der Sozialabteilung einen Antrag stellen auf sogenannte Notfallhilfe, die gleich hoch ist wie die Asylfürsorgeleistung. Und wenn jemand gar kein Geld hat, keinerlei Erspartes, und sofort etwas zu essen kaufen muss, gibt es Soforthilfe in Form von Gutscheinen oder ähnlichem. Dafür haben wir einen speziellen Fonds, für den wir auch Spenden erhalten. Um Leistungen zu erhalten, ist es wichtig, dass Flüchtlinge, die nach Meilen kommen, sich umgehend bei der Einwohnerkontrolle registrieren und, falls noch nicht gemacht, das Gesuch für den Status S einreichen. Sonst gibt es unnötige Verzögerungen.

Sind die Kosten zulasten des Gemeindebudgets ein Thema?

Nein. Man weiss, dass die Auslagen der Gemeinden für die Flüchtlinge immer höher sein werden, als die rund 1200 Franken pro Person und Monat, die wir vom Kanton als Pauschale erhalten.

Wird von Gastfamilien erwartet, dass sie bei der Finanzierung mithelfen?

Es ist auf keinen Fall die Meinung, dass sich Gastfamilien finanziell an den Kosten für ihre aufgenommenen Gäste beteiligen müssen oder sollen. Die Flüchtlinge haben entweder noch Erspartes, können Antrag auf Notfallhilfe stellen oder erhalten Asylfürsorge. In dem Sinne bekommen sie, was sie aktuell brauchen. In Meilen sind die Gastfamilien aber oft sehr grosszügig und sagen, wir kaufen freiwillig für alle ein. Die Ukrainerinnen möchten ihren Gastfamilien natürlich etwas abgeben oder zurückgeben. Dies entweder von der Asylfürsorge, wobei diese eher knapp ist, oder später, wenn sie arbeiten. Das ist typisch für ihre Mentalität.

Sind trotzdem Entschädigungen für Gastfamilien geplant?

Das hat die Sozialbehörde noch nicht entschieden. Viele Gastfamilien haben explizit darauf verzichtet, andere aber nicht. So oder so wird es nie ein lukrativer Nebenerwerb sein.

Wer bezahlt die dringend nötigen Deutschkurse?

Zugewiesene Flüchtlinge mit Status S unterliegen dem Integrationsauftrag des Kantons und werden via ORS in offizielle Sprachkurse eingebucht. Die Triage dazu wird individuell vorgenommen. Die Ukrainerinnen haben Drive, einige von ihnen besuchen bereits Intensivdeutschkurse in Zürich mit dem Ziel, Level A1 oder A2 bald zu erreichen, damit sie schnell einen Job finden. Flüchtlinge, auch ohne Status S, finden niederschwellige Bildungs- und Integrationsangebote in der Gemeinde wie das Café Grüezi International etc. Kinder dürfen da auch mitgebracht werden. Alle Infos sind auf der Webseite der Gemeinde.

Werden die Angebote noch ausgebaut?

Ja, denn wir haben zum Glück ein schönes Netzwerk von sehr engagierten Freiwilligen, die sich langfristig und mit viel Herzblut engagieren. Seit dem 28. April ist neu das wöchentliche Vernetzungs-Café im «Treffpunkt» dazugekommen, das wir organisiert haben. Es wird jeweils am Donnerstagnachmittag jemand von der Gemeinde, der ORS oder der Behörde anwesend sein und Fragen beantworten. Es können alle kommen: Gastgeber, Flüchtlinge und Aussenstehende, die sich interessieren. Eine Übersetzerin wird ebenfalls vor Ort sein, und auch da können Kinder mitgebracht werden.

Was ist Ihrer Erfahrung nach das Schwierigste für die Flüchtlinge?

Das Aushalten der Situation; die Nachrichten aus der Heimat. Sie sind sehr dynamisch, halten es manchmal fast nicht aus, abzuwarten. Sie wollen nicht Bittsteller auf Behördengängen sein; sie wollen arbeiten, denn die Realität für eine rasche Rückkehr ist in den Hintergrund gerückt. Dabei stellt sich das Problem, dass die Ukrainerinnen zwar gut ausgebildet sind, ihre Diplome aber in Westeuropa oft nicht anerkannt sind. Da wird es noch Desillusionen geben.

Was ist die grösste Herausforderung für die Planung in der Gemeinde?

Dass wir nicht wissen, wie sich der Krieg entwickelt und wie lange er dauert. Nur schon der Abschluss von neuen Mietverträgen für Flüchtlingswohnungen ist ein Balanceakt: Auf ein halbes Jahr? Auf ein Jahr? Die Ungewissheit ist gross und nicht alle können auf längere Frist bei ihren Gastfamilien bleiben. Wir haben inzwischen auf eine rollende Planung umgestellt.

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