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Vor 30 Jahren endete der Bosnienkrieg. Belkisa Handzic, heute Apothekerin in Feldmeilen, erlebte ihn als Teenager. Wie nahe und gefährlich Granaten sein können, konnte sie damals am Geräusch erkennen.
«Ich habe eigentlich Glück gehabt», sagt Belkisa Handzic im kleinen, weiss gestrichenen Besprechungszimmer in der Apotheke Feldmeilen. «Von meiner Familie kam niemand ums Leben.»
Handzic wuchs in einem Dorf in der Nähe von Gracanica auf, einer Stadt im nordöstlichen Teil von Bosnien. Der Vater führte ein Baumaterialgeschäft, war in der kommunistischen Partei. «Bis zum Bosnienkrieg war das Zusammenleben kein Problem, die Stadt war ethnisch gemischt, Serben, Kroaten und in der Mehrheit bosnische Muslime.»
Ein Gerät auf einem Tischchen im Besprechungszimmer summt vor sich hin, es misst wahrscheinlich den Blutdruck. Ordner stehen in Reih und Glied in einem Regal, Broschüren informieren an der Wand über verschiedene Krankheiten. Hier wird auch gegen Grippe, Covid oder Zeckenenzephalitis geimpft.
Zuschauen, wie Jugoslawien auseinanderfällt
1991, Belkisa war zwölf, sah ihre Familie am Fernsehen, wie Jugoslawien auseinanderfiel: Slowenien wurde unabhängig, später auch Kroatien. In Bosnien ging der Krieg im April 1992 los. Die Grenzen wurden geschlossen, das Essen wurde knapp, die Preise stiegen. Zeitweise war der Strom abgestellt, und die Armee wurde mobilisiert. «Ein Jahr lang war alles geschlossen. Erst mit 16 konnte ich zum ersten Mal in eine Disco gehen. Der Krieg hat meine Jugend gestohlen.»
Sie kann sich nicht mehr an alles erinnern, aber einiges ist ihr geblieben. Während des Krieges sei zum Beispiel die Familie ihres Grossvaters einmal draussen an einem Tisch gesessen, als eine Granate zehn Meter entfernt eingeschlagen, aber nicht explodiert sei. «Das war wohl Schicksal», sagt Handzic. «Wir lernten die Geräusche der Granaten unterscheiden, das war überlebenswichtig. Ein feines, hohes ‹Sssssh› heisst: Sie fliegt über uns weg. Ein tieferes ‹Pfff›: Sie schlägt in der Nähe ein», erinnert sie sich.
In ihrer Schule wurden bald auch Flüchtlinge untergebracht, und der Unterricht fand in der Turnhalle statt. Man musste improvisieren. In der Nacht lernte sie bei Kerzenschein.
Bohnen im Tausch gegen Kleidung
Nach der Grundschule im Jahr 1993 wollte sie aufs Gymnasium in Gracanica, rund 17 Kilometer entfernt, aber es gab keinen öffentlichen Verkehr mehr, keinen Bus, keinen Zug, nichts. Doch auch das Gymnasium improvisierte und eröffnete im Nachbardorf eine Filiale, die Handzic besuchen konnte. Allerdings musste sie auch dann jeden Tag zehn Kilometer über einen grossen Berg laufen.
«Einmal gingen meine Mutter und mein kleiner Bruder – er ist im Krieg geboren – in die Stadt. Die Sirenen gingen los, wir hörten das ‹Pfff›. Wir legten uns alle auf den Boden, und die Mutter lag auf uns, um uns zu schützen.» Die Granate detonierte in einiger Entfernung. Wieder Schicksal.
Unterdessen kamen auch UNO-Konvois mit Lebensmitteln ins Dorf. «Die UNO-Kekse waren alt, die habe ich nicht gegessen.» Sie erinnert sich auch an viele Linsenladungen. Schokolade habe sie ein paar Monate nicht mehr gesehen. Zum Glück pflanzte ihre Familie selbst an, Bohnen, Weizen, auch Erdbeeren, die sie dann gegen Kleidung tauschen konnten.
Später, als einzelne Busse wieder fuhren, ging sie doch nach Gracanica ins Gymnasium. «Es gab immer wieder Sirenenalarm. Und statt uns zu fürchten freuten wir uns, weil dann der Unterricht ausfiel und wir in den Keller mussten. Jugendliche halt.»
Immerhin gab es nach dem Krieg Zukunft
Ende 1995 war der Krieg endlich vorbei. Das Leben normalisierte sich. Nach der Matura 1997, die sie «irgendwie» geschafft hat, begann sie Pharmazie im zerstörten Sarajevo zu studieren, der Hauptstadt Bosniens, die vier Jahre brutal belagert worden war. Nach dem Abschluss 2003 arbeitete sie zuerst zwei Jahre bei einem Medikamentengrosshändler, danach bei einer kroatischen Pharmafirma im Marketing. «Das war interessant, mit Reisen und Anlässen mit Hollywood-Schauspielern wie Jeremy Irons oder Steve Buscemi.» Die Menschen in Bosnien seien damals glücklicher gewesen als heute, man hatte Hoffnung, es gab Zukunft. «Heute ist das leider anders.»
Pharmazie-Studium an der ETH Zürich
Belkisa Handzic ist gross, schlank, ernst und doch freundlich, mit langen, hellbraunen Haaren. In der Apotheke verströmt sie im weissen Mantel Seriosität. Ihr Deutsch ist sehr gut, nur ein leichter Akzent ist hörbar. Manchmal erfindet sie spontan neue Verben wie zum Beispiel «reinschubladen». Ihr Blick wird intensiv, wenn sie vom Krieg erzählt, die braunen Augen werden gross und eindringlich.
Ihr Mann stammt ebenfalls aus Bosnien, aber im Gegensatz zu ihr hat er im Krieg Familienangehörige verloren. Er ist nach dem Krieg in die Schweiz gekommen, sie folgte ihm 2008 und konnte zuerst aber nur als Praktikantin arbeiten, weil ihr Diplom nicht anerkannt war. Sie studierte dann drei Jahre an der ETH Zürich nochmals Pharmazie, um die Anerkennung zu erhalten, als Mutter eines Babys. Am Morgen ging sie in die Vorlesung, am Nachmittag arbeitete sie als Praktikantin in einer Apotheke in Brüttisellen.
2014 hat sie abgeschlossen, und seit 2018 leitet sie, unterdessen Schweizerin, die Apotheke in Feldmeilen. Die Mutter von zwei Kindern, 8- und 15-jährig, bildet sich momentan auch in klinischer Pharmazie an der Uni Basel weiter. «Ich muss immer etwas lernen, ich kann nicht ruhig sitzen.»
Dankbar für jeden überstandenen Tag
Manchmal wundert sie sich: «Wir heute können uns über ganz kleine Dinge aufregen und uns ständig Sorgen machen. Damals im Krieg waren wir dankbar für jeden überstandenen Tag. Wir hatten es aber auch lustig, machten Witze. Ohne diesen Galgenhumor hätte man es nicht ausgehalten.» Vielleicht sei sie durch den Krieg belastbarer geworden, könne mit wenig glücklich sein. Und trotzdem macht sie sich auch Sorgen, um ihre Kinder, um die Zukunft. «Kommt das alles wieder?»
Das Blutdruckmessgerat summt immer noch vor sich hin, man hört das melodische Dingdong, wenn jemand die Apotheke betritt. Ein Lernender, ebenfalls im weissen Mantel, kommt, fragt etwas. «Ja, kein Problem, das unterschreibe ich später», sagt ihm Handzic. Nachdem er gegangen ist, fragt sie: «Wie viele Leute wissen noch von diesem Krieg? Den Zweiten Weltkrieg kennt man, aber die Jugoslawienkriege?»
Glück gehabt, auch seelisch
Als Teenager habe sie vieles nicht wahrgenommen, nicht einordnen können oder verdrängt. «Einmal auf dem Schulweg gingen wieder die Sirenen los. Ich musste in den nächstbesten Keller rennen, bin hingefallen und habe meine neuen Jeans zerrissen. Das war für mich als junges Mädchen damals das Schlimmste: Dass meine Jeans, die wir gegen Lebensmittel eingetauscht hatten, kaputt gegangen sind.» Drei Stunden sei sie in diesem Keller gewesen. Ihre Eltern wussten nicht, wo sie war. «Wie auch? Es gab keine Handys.»
«Ja, ich habe Glück gehabt, auch seelisch», sagt sie. Kürzlich habe sie ein Buch über den Bosnienkrieg gelesen (Amra Sabic: «The cat I never named»). Da sei ihr plötzlich alles hochgekommen. Oft denke sie heute: Was wäre, wenn es anders herausgekommen wäre? Wenn sich das Schicksal anders entschieden und sie und ihre Familie nicht so viel Glück gehabt hätten?
1991 begannen die Jugoslawien-Kriege, nachdem sich Slowenien vom damaligen Jugoslawien für unabhängig erklärt hatte. Später erklärten sich auch Kroatien und Bosnien für unabhängig, was zum Kroatien- und Bosnienkrieg führte. Der Bosnienkrieg endete 1995 mit dem Dayton-Abkommen.
Allein in Sarajevo starben rund 11’000 Menschen, etwa 25’000 Bosnierinnen und Bosnier flüchteten bis 1995 in die Schweiz.
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