Amtliches, obligatorisches Publikationsorgan der Gemeinde Meilen
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Amtliches, obligatorisches Publikationsorgan der Gemeinde Meilen

Trauer, Depression und Angst – Was macht die Zeit mit uns?

Dass der emeritierte Professor Dr. Daniel Hell in Meilen kein Unbekannter ist, zeigte am Mittwochabend, 8. März, der Publikumsaufmarsch, der das Fassungsvermögen des Kirchenzentrums Leue an seine Grenzen brachte.

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Edvard Munchs depressive Schwester Laura. Das Bild trägt den Titel «Melancholie». Foto: Munch-Museum Oslo

Bekannt ist der Referent nicht nur als ehemaliger Leiter des Kompetenzzentrums «Depression und Angst« an der Privatklinik Hohenegg, wo er heute als eigenständiger Psychiater und Psychotherapeut weiterwirkt; viele kennen ihn auch von seinen zahlreichen Büchern her, die sich mit wichtigen Lebensfragen, insbesondere mit der Depression befassen.

Getaktete und erlebte Zeit

Im Rahmen der Winterreihe «Zeit» der beiden Kirchen sprach Professor Hell zum Thema «Was macht die Zeit mit uns?» Mit Nachdruck unterschied er zwischen physikalischer Zeit und Erlebenszeit. Dem Menschen fehlt ein Sinnesorgan für die Zeit. Wohl gerade deshalb ist er bestrebt, die Zeit objektiv zu erfassen. Das geschah ursprünglich mit Sonnen- und Wasseruhren, später mit Sand- und mechanischen Uhren und in jüngster Zeit mit Quarz- und Atomuhren.

Neben der physikalischen Zeit kennen wir die Erlebenszeit, die wir als Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft wahrnehmen. Im Gegensatz zur starren und unerbittlich voranschreitenden physikalischen Zeit kann die gefühlsmässig empfundene Zeit in glücklichen Augenblicken rasend schnell dahinfliessen oder beim Erleben von Unangenehmem gleichsam stillstehen.

Der Mittagsdämon

Erst seit dem Mittelalter kennt man den Begriff der Langeweile, heute ein sehr verbreitetes Phänomen. Es äussert sich als Trägheit, als Überdruss oder gar als Widerwille und Hass auf das gegenwärtige Leben. Im Mittelalter sah man im Mittagsdämon eine grosse Gefahr. Die Augenblicke absoluter Lustlosigkeit, die besonders um die Mittagszeit auftreten konnten, galten in Mönchskreisen als eines der Hauptlaster.

Man kann Langeweile im Alltag als Unbehagen empfinden, auch wenn sie bis zu einem ernsten Verlust des Lebenssinns reichen kann. Beim depressiven Menschen führt dieser Zustand weiter zur völligen Handlungsunfähigkeit. Der Depressive blickt vorwiegend auf die Vergangenheit zurück, während der Gelangweilte stärker in die Zukunft schaut.

In einer schweren Depression glaubt der Mensch, die Zeit vergehe überhaupt nicht mehr. Er hat das Gefühl, gegenüber allen andern zurückzubleiben, und das, obwohl ihm bewusst ist, dass vieles zu tun wäre. Am Bild «Melancholie» zeigte der Referent die depressiven Züge von Munchs Schwester Laura auf. Sie sitzt im schwarzen Kleid tatenlos da.

Trauer und Depression

Professor Hell wies auf den Unterschied zwischen Trauer und Depression hin. Trauer löst zwar intensive Gefühle aus, aber der Selbstwert der trauernden Person bleibt erhalten und der Verlust wird verarbeitet. Der depressiven Person hingegen gehen Gefühle weitgehend ab. Sie empfindet nur Leere. Ihr Selbstwert ist vermindert. Es kommt zu einem Stillstand, dem jeder Anstoss zum Handeln fehlt.

Bei einer bipolaren Störung empfindet die betroffene Person die Zeit bald als stillstehend, bald als rasend schnell. Früher bezeichnete man die beiden Pole als depressive und manische Phase. Dabei wechseln die Gefühle von einem Extrem ins andere.

Schliesslich kam der Referent auf das Thema «Angst» zu sprechen. Ängste kommen auf, wenn der Mensch seine Gegenwart oder seine Zukunft für bedroht hält. Er blickt dann bange in seine Zukunft und lebt gleichzeitig in hoher Spannung. Die Zeit dehnt sich.

Den persönlichen Rhythmus finden

Zu den wichtigen Hinweisen, die der Referent den Zuhörerinnen und Zuhörern mit auf den Weg gab, gehörte die Warnung, sich nicht einseitig mit Vergangenheit oder Zukunft zu beschäftigen. Der Mensch braucht Zeit und Ruhe, um seinen persönlichen Weg zu suchen. Dabei soll er sich nicht vom Takt der physikalischen Zeit beherrschen lassen. Vielmehr gilt es, einen eigenen Rhythmus zwischen Aktivität und Musse zu finden, Beziehungen und Hobbys zu pflegen, dem Körper Sorge zu tragen und seine geistigen und seelischen Bedürfnisse wahrzunehmen.

Mit diesem spannend vorgetragenen, äusserst instruktiven Referat schloss die Winterreihe. Noch steht offen, wie es im kommenden Jahr weitergehen wird.16

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